Das Geheime Vermächtnis
Gebäude war es still und kühl, und Carolines Stiefel klapperten laut auf den hölzernen Dielen, als sie eintrat. Sie näherte sich dem adretten jungen Angestellten und sah ihn vor ihrer unordentlichen Erscheinung zurückschrecken. Eine Standuhr tickte schwerfällig an der Wand, ein Geräusch, das Caroline seit ihrer Abreise aus New York nicht mehr gehört hatte. Sie betrachtete die schimmernde Uhr, ganz ähnlich wie jene, die in Bathildas Flur gestanden hatte, und sie erschien ihr wie ein Ding aus einer anderen Welt.
»Kann ich etwas für Sie tun, Madam?«, fragte der junge Mann.
»Ich möchte Geld abheben«, sagte sie, und ihr wurde klar, dass sie keine Ahnung hatte, was dazu nötig sein könnte, weil sie noch nie eine solche Bitte in einer Bank geäußert hatte.
»Haben Sie ein Konto bei uns, Madam?«, fragte der Angestellte in einem Ton, der andeutete, für wie unwahrscheinlich er das hielt. Caroline betrachtete seinen präzise getrimmten Schnurrbart, seinen Anzug und den makellosen Kragen. Seine Miene war hochmütig, fand sie, für einen Jungen, der in einer Bank arbeitete. Sie straffte die Schultern und fixierte ihn mit festem Blick.
»Soweit ich weiß, hat mein Mann seit vielen Jahren hier ein Konto geführt. Ich bin Mrs. Corin Massey.« Bei diesen Worten erschien ein älterer Mann hinter dem jungen Angestellten und lächelte sie freundlich an.
»Mrs. Massey, bitte kommen Sie herein, setzen Sie sich. Mein Name ist Thomas Berringer. Ich habe Sie bereits erwartet. Es ist alles vorbereitet, und selbstverständlich erhal ten Sie sofort Zugang zum Konto Ihres verstorbenen Mannes. Darf ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?« Mr. Berringer führte sie zu einem Stuhl und gab dem Angestellten einen Wink, ihr Wasser zu bringen.
Als er sich erkundigte, wie viel Geld sie abheben wollte, merkte Caroline, dass sie keine Ahnung hatte. Keine Ahnung, wie viel Lohn ein Cowboy oder Arbeiter bekommen sollte, wie viel Lohn ausstand, oder auch nur, wie viele junge Männer sie zu bezahlen hatte. Sie hob die Hälfte des verfügbaren Geldes ab, und Mr. Berringer wirkte zwar sehr überrascht, füllte aber die erforderlichen Formulare aus und legte sie ihr kommentarlos zur Unterschrift vor. Das Datum oben auf dem Blatt versetzte Caroline einen kleinen Stoß.
»Heute ist mein Geburtstag«, sagte sie dumpf. »Ich werde heute einundzwanzig.«
»Nein, so etwas.« Mr. Berringer lächelte ein wenig unbehaglich. »Die besten Wünsche, Mrs. Massey.«
Das Paket Banknoten, das ihr übergeben wurde, war dick und schwer. Caroline wog es in ihrer Hand und wusste nicht recht, wo sie es verstauen sollte. Mr. Berringer bemerkte ihr Dilemma und gab erneut dem Angestellten einen Wink, der einen Stoffbeutel fand, in dem das Geld vor neugierigen Blicken verborgen wurde. Draußen blieb Caroline auf dem hölzernen Bürgersteig stehen und starrte auf all die Leute und Pferde und Kutschen. Sie hatte sich einst unter vielen Menschen so heimisch gefühlt. Jetzt fühlte sie sich nirgendwo mehr heimisch. Endlich hatte sie Gelegenheit, die Geschäfte der Stadt zu besuchen, Bücher oder Delikatessen oder Kleider zu kaufen, aber ihr fiel nichts ein, was sie gern gehabt hätte. Als sie einen Kurzwarenladen entdeckte, kaufte sie dort ein weiches, weißes Häkeldeckchen für William und ein offenes Tragebettchen aus dicht gewobenem Stroh.
»Darin hat er es bei dieser Hitze kühler als in der Ledertrage, in der er jetzt liegt«, erklärte sie Hutch.
»Das ist sehr gütig von Ihnen, Caroline. Maggie wird sich riesig darüber freuen«, sagte Hutch nickend und verstaute die Geschenke unter dem Sitz des Einspänners. Eine ganze Weile später, zu spät, um etwas dazu zu sagen, fiel Caroline auf, dass Hutch sie zum ersten Mal beim Vornamen genannt hatte.
Sie blieben nur eine Nacht, in demselben Hotel wie in der Nacht nach der Gala. Caroline bat um dasselbe Zimmer, doch es war schon belegt. Sie hatte in einem Raum sein wollen, in dem Corin gewesen war, wie eine Pilgerin, die einen Schrein besuchte. Als könnte dieses Zimmer sich an Corin erinnern, als wäre seine Essenz dort noch zu spüren. Sie blickte lange aus dem Fenster, während die Sonne unterging und die Stadt in prächtige Rosa- und Goldtöne tauchte. Sie beobachtete die Menschen, die vorübergingen, hörte einzelne Worte ihrer Gespräche und hin und wieder ein Lachen, und sie versuchte, sich zu erinnern, wie es gewesen war, eine von ihnen zu sein. Als es dunkel wurde, sah sie Hutch das Hotel verlassen, mit
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