Das Geheime Vermächtnis
danke. Wollen wir uns hier wieder treffen?«
»Wie wäre es mit diesem Café in der High Street – dem mit dem blauen Vordach? Da ist es wärmer, falls einer von uns warten muss«, schlage ich vor. Dinny nickt, hebt die Hand zu einem Winken und geht zwischen den geparkten Autos hindurch.
Die Bibliothek liegt in der Sheep Street, also habe ich es nicht weit. Das Gebläse am Eingang stößt mir einen stickigen Schwall heißer Luft entgegen, und sobald ich durch die Tür bin, befreie ich mich in der unangenehmen Hitze von Mantel und Schal. Drinnen ist es fast leer, nur wenige Leute stöbern in den Regalen, und eine streng aussehende Frau am Schalter ist mit irgendetwas beschäftigt und blickt nicht zu mir auf. Ich setze mich vor einen Computer und suche nach Einträgen von Todesfällen in den Jahren 1903, 1904 und 1905, damit das Netz auch weit genug gespannt ist, mit den Namen Calcott und Fitzpatrick, in London und in Wiltshire. Die Ergebnisse sehe ich nach verstorbenen Kindern von unter zwei Jahren durch. Mein Notizblock neben mir auf dem Schreibtisch bleibt leer. Nach einer Stunde kritzele ich darauf: Hier ist er nicht.
Ich starre auf die letzte Liste von Namen auf dem Bildschirm, bis meine Augen durch die Pixel rutschen und sich auf einen entfernteren Punkt fokussieren. Das Baby ist wahrscheinlich in Amerika gestorben. Das, und was auch immer Caroline dazu gebracht haben mag, den Mann mit C zu verlassen, könnte sogar der Grund dafür sein, dass sie überhaupt hierher nach England kam. Und es könnte sicherlich zu ihrer Distanziertheit, ihrer Gefühlskälte beigetragen haben. Warum kann ich es dann nicht dabei belassen? Was zupft da an der hintersten Ecke meines Geistes und fleht förmlich darum, endlich erfasst zu werden? Da ist noch etwas, irgendetwas, das ich weiß, aber vergessen habe. Ich frage mich, wie viele solche Dinge sich wohl in meinem Kopf herumtreiben und nur darauf warten, hervorgescheucht zu werden. Ich hole den Beißring aus der Hosentasche und streiche mit den Fingern über das glatte, makellose Elfenbein. Das Glöckchen trägt eine Punze am Rand. Ein winzi ger Löwenkopf, ein Anker, der Buchstabe G in Frakturschrift und etwas, das ich kaum erkennen kann. Ich drehe den Ring zum Licht hin und halte ihn mir dicht vor die Augen. Eine Flamme? Ein Baum – ein dünner Baum wie eine Zypresse? Ein Hammer? Das Licht bricht sich an dem Umriss. Es ist ein Hammerkopf. Vertikal, als würde man den Hammerschlag von der Seite beobachten.
Ich wende mich wieder dem Computer zu und suche im Internet nach amerikanischen Silberpunzen mit G. Mehrere Online-Lexika und Silber-Sammlerführer erscheinen. Ich suche darin nach Einträgen unter G und habe schnell die Markierung auf dem Glöckchen gefunden. Gorham. Gegründet in Rhode Island 1831. Eine einflussreiche Silberschmiede – sie haben diverse Teegeschirre für das Weiße Haus angefertigt und den Pokal für den Davis Cup, aber ihr Hauptgeschäft waren Teelöffel, Fingerhüte und andere kleine Geschenkartikel. Ich finde den vertikalen Hammerkopf auf der Liste von Gorhams Jahresmarken – 1902. So viel habe ich hiermit also bewiesen: Wer auch immer der kleine Junge auf dem Foto ist, und wer auch immer sein Vater gewesen sein mag, dieser Beißring aus Elfenbein und Silber hat ihm gehört. Er war der prächtige Sohn , der dieses Geschenk bekam. Nicht Clifford und auch kein anderes Kind, das Caroline verlor, nachdem sie nach England gekommen war. Ich schlie ße die Finger darum und spüre, wie meine Haut das Silber er wärmt. Die gedämpfte Bewegung des winzigen Klöppels im Inneren fühlt sich an wie ein zarter, bebender Herzschlag.
Der Weg zur High Street durch das Einkaufsgedränge ist mühsam. In den Schaufenstern leuchten grelle Werbeschilder, die einmalige Gelegenheiten und ungeheuerliche Preisreduzierungen versprechen. Musik und Hitze wallen aus den Türen, und an den Händen vieler Leute hängen vier, fünf, sechs Einkaufstüten. Ich werde hierhin und dorthin geschoben, und als ich das Café endlich erreiche, ist es rappelvoll. Ich bin schon ein bisschen gereizt, doch dann entdecke ich Dinny, der an einem der kleinen Tische am beschlagenen Fenster sitzt. Es duftet stark und köstlich nach gemahlenem Kaffee. Ich schiebe mich zwischen den dicht besetzten Tischen hindurch.
»Hallo – tut mir leid, wartest du schon lange?« Ich lächle ihn an und lege meinen Mantel über den freien Stuhl ihm gegenüber.
»Nein, nicht lange. Ich hatte Glück mit dem Tisch –
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