Das Geheime Vermächtnis
zwei nette alte Damen sind gerade aufgestanden, als ich hereinkam.«
»Möchtest du noch einen Kaffee? Oder etwas zu essen?«
»Danke. Noch ein Kaffee wäre gut.« Er faltet die Hände auf der klebrigen Tischplatte, und auf einmal sieht er so merkwürdig aus, dass ich ihn anstarre und nicht begreifen kann, was ich an ihm sehe. Dann wird es mir klar – ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich Dinny in vier Wänden gesehen habe. Und er sitzt sogar am Tisch und hat es nicht eilig, wieder nach draußen zu kommen. Er tut etwas so Alltägliches wie in einem Café sitzen und Kaffee trinken. »Was ist?«, fragt er mich.
»Nichts.« Ich schüttele den Kopf. »Bin gleich wieder da.«
Ich kaufe zwei große Becher Milchkaffee und ein Mandelcroissant für mich.
»Hast du heute noch nicht gefrühstückt?«, fragt Dinny, als ich mich setze.
»Doch, schon«, antworte ich achselzuckend, reiße ein Ende von meinem Croissant ab und tunke es in den Kaffee. »Aber es ist Weihnachten«, füge ich hinzu, und Dinny zieht grinsend eine Augenbraue hoch – ein Zugeständnis. Die Sonne scheint durchs Fenster und umhüllt ihn mit einem blendenden Heiligenschein.
»Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
»Ja und nein. Es gibt keine Aufzeichnungen über den Tod des Babys auf dieser Seite des Atlantiks, also muss ihr Sohn auf der anderen Seite gestorben sein, wie du vorhin gemeint hast.«
»Oder …« Dinny zögert.
»Oder was?«
»Oder das Baby ist überhaupt nicht gestorben.«
»Wo ist es dann?«
»Ich weiß nicht – das ist dein Forschungsprojekt. Ich weise dich nur auf einen möglichen Grund dafür hin, dass es keine Aufzeichnungen über seinen Tod gibt.«
»Das stimmt. Aber auf Carolines Hochzeitsurkunde steht, dass sie unverheiratet war. Das wäre wohl kaum da eingetragen, wenn sie mit dem Kind eines anderen Mannes hierhergekommen wäre«, halte ich dagegen. Dinny zuckt mit den Schultern. Ich reiche ihm den Beißring. »Aber die Punze auf dem Glöckchen habe ich gefunden. Das ist ein …«
»Beißring?«, sagt Dinny.
»Was offenbar jeder weiß außer mir.« Ich verdrehe die Augen. »Die Punze ist amerikanisch – und das Glöckchen wurde neunzehnhundertzwei angefertigt.«
»Aber wusstest du denn nicht schon vorher, dass das Baby in Amerika zur Welt gekommen ist? Was beweist das also?«
»Na ja, meiner Meinung nach beweist es immerhin, dass Caroline seine Mutter war. Als ich meiner Mum das Foto gezeigt habe, meinte sie, das könnte Carolines Patenkind gewesen sein, oder das Baby einer Freundin oder so. Aber wenn sie diesen Beißring die ganzen Jahre über aufbewahrt hat – dann muss sie doch seine Mutter gewesen sein, glaubst du nicht?«
»Ich denke schon, ja.« Dinny nickt und gibt mir den Elfenbeinring zurück.
Ich schlürfe gierig den heißen Kaffee und spüre, wie er wieder etwas Blut in meine Wangen strömen lässt. Dinny blickt hinaus auf die geschäftige Straße und scheint tief in Gedanken versunken.
»Und, wie ist das für euch, plötzlich Gutsherrinnen zu sein? Gewöhnt ihr euch allmählich daran?«, fragt er unvermittelt, den Blick immer noch aus dem Fenster gerichtet.
»Wohl kaum. Ich glaube, wir werden nie das Gefühl haben, dass das unser Haus ist. Nicht so richtig. Und ob wir bleiben und da wohnen wollen … na ja. Abgesehen von allem anderen, könnten wir uns allein die Unterhaltskosten nicht leisten.«
»Was ist mit den ganzen Reichtümern der Calcotts, die ihr geerbt habt, wenn man den Gerüchten im Dorf glauben kann?«
»Das sind leider wirklich nur Gerüchte. Das Vermögen der Familie ist seit dem Krieg dahingeschmolzen – und ich meine den Ersten Weltkrieg. Meredith hat sich ständig bei meinen Eltern beklagt, dass sie sie nicht genug unterstützen würden – bei der Instandhaltung und so weiter. Deshalb musste sie so viel Grund verkaufen, die besten Gemälde, das Silber … Es war noch etwas Geld da, als sie gestorben ist, aber nach der Erbschaftssteuer wird nichts mehr davon übrig sein.«
»Was ist mit dem Titel?«
»Tja, der geht auf Clifford über, Henrys Vater.« Als ich seinen Namen ausspreche, blicke ich auf und sehe Dinny einen flüchtigen Moment lang in die Augen. »Mein Urgroß vater, der ebenfalls Henry hieß, hat das Adelspatent durch Parlamentsbeschluss abändern lassen, weil er keine Söhne hatte. Er hat es so gedreht, dass der Titel auf Meredith übergehen konnte, nach ihr aber wieder männlichen Erben zusteht. Ihren leiblichen Nachkommen der männlichen Linie, oder
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