Das Geheime Vermächtnis
unerheblich, irrelevant. Und dann wird mir klar: Das ist nicht mehr mein Leben. Das war einmal mein Leben, und ich habe nicht bemerkt, dass ich irgendwann aufgehört habe, es zu leben. Und mir bleibt nicht viel Zeit, mir zu überlegen, wie es für mich weitergehen soll. Ich laufe hinauf in mein Zimmer, um Briefe zu lesen und nachzudenken. Ich lausche der Stille, die nach dem Lärm in der Stadt umso dröhnender klingt. Die gedämpften Schreie der Saatkrähen draußen. Kein melodischer Vogelgesang schmeichelt dem Ohr, keine Kirchenglocken läuten, keine Kinder lachen. Da ist nur die tiefe Ruhe, die mich anfangs so nervös gemacht hat. Ich lasse sie wieder in mich einsinken. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich einmal hier zu Hause fühlen könnte.
Am Dienstag fahre ich nach West Hatch, die Augen gegen den strahlenden Sonnenschein zusammengekniffen. Das Dorf ist nicht groß. Ich drehe zwei Runden durch den Ort, bis ich finde, wonach ich gesucht habe. Vor einem kompakten Backsteinbungalow, eine Stein gewordene Konvention aus den sechziger Jahren, nimmt ein zerbeultes altes Wohnmobil den gesamten Vorgarten ein. Es war einmal nagelneu, cremeweiß mit einem breiten, kaffeebraunen Streifen an den Seiten. Jetzt ist es grün vor Algen und steht auf platten Reifen. Aber ich erkenne es sofort wieder. Ich war oft da drin, habe auf einer mit klebrigem Kunstleder bezogenen Bank gesessen und gierig köstliche, selbst gemachte Limonade in mich hineingeschüttet. Als es jetzt wieder vor mir steht, habe ich beinahe einen Kloß im Hals. Das Haus von Mickey Mouse. Ich stelle mir die Mo von früher vor, rundlich und ein wenig krumm, wie sie in der Tür lehnte und sich mit einem blauen Geschirrtuch die Hände trocknete, als Dinny, Beth und ich ihr den Rücken zukehrten. Mickey mit seinem kunstvoll gezwirbelten Schnurrbart, dem Overall, der immer voller Ölflecken war, und schwarzer Schmiere in den Furchen seiner Hände.
Vor der Haustür flattern mir auf einmal die Nerven. Eher aufgeregt als ängstlich. Die Klingel lässt ein weiches, elektronisches Ding-Dong hören. Ich hätte nie gedacht, dass Mo einmal auf so ein Läuten hin eine Tür öffnen wurde, doch das tut sie. Sie sieht kleiner aus, älter, irgendwie weniger, aber ich erkenne sie sofort. Sie hat mehr Falten im Gesicht, und ihr Haar hat einen unglaubwürdig einheitlichen Kastanienton, doch das sind dieselben klugen Augen. Sie sieht mich mit festem, abschätzendem Blick an, und ich bin heilfroh, dass ich ihr nichts verkaufen will.
»Ja, bitte?«
»Äh, ich wollte Honey besuchen? Und das Baby. Ich bin’s, Erica. Erica Calcott.« Ich lächle vorsichtig und schaue zu, wie sie den Namen wiedererkennt und in meinem Gesicht nach vertrauten Zügen sucht.
»Erica! Bei Gott, dich hätte ich ja nie erkannt! Du siehst völlig anders aus!«
»Tja, dreiundzwanzig Jahre können ein Mädchen ganz schön verändern«, entgegne ich lächelnd.
»Na, dann komm mal rein. Wir sind alle im Wohnzimmer.« Sie lässt mich eintreten und zeigt auf eine Tür auf der linken Seite, und auf einmal bin ich doch nervös. Ich frage mich, wer alle sein mögen.
»Danke«, sage ich und drücke mich im Flur herum. Meine Hände, die den in Plastikfolie eingewickelten Blumenstrauß umklammern, fühlen sich feucht an.
»Geh nur zu, nur zu«, sagt sie, und mir bleibt nichts anderes übrig. »Ich habe gehört, dass du die kleine Haydee schon beinahe kennengelernt hättest, auf dem Weg ins Krankenhaus!«
»Beinahe!«, bestätige ich. Dann stehe ich als Einzige in einem Raum voll sitzender Menschen. Es ist erstickend heiß hier drin. Die Aussicht vor dem Fenster wabert leicht im Hitzeschleier über dem Heizkörper, und ich spüre, dass ich knallrot werde. Ich blicke mit dämlichem Lächeln um mich. Dinny schaut von einem Ende des Sofas auf und freut sich ganz offensichtlich, als er mich sieht.
Honey sitzt neben ihm, eine leere Babytrage zu ihren Füßen, ein Bündel im Arm. Da ist noch ein junges Mädchen, das ich nicht kenne, mit knallrosa Haaren und einem Kristallpiercing in der Lippe. Mo stellt sie mir als Honeys Freundin Lydia vor, und der ältere Mann, dünn und mit Knopfaugen, ist Mos Lebensgefährte Keith. Es ist kein Platz mehr frei, auf den ich mich setzen könnte, also stehe ich verlegen in dem kleinen Raum herum. Honey versucht mühsam, sich aufzurichten.
»Bitte bleib sitzen!«, sage ich und strecke ihr Blumen und Pralinen hin, um sie schließlich zwischen die leeren Becher und einen Teller Kekse auf
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