Das Geheime Vermächtnis
den Couchtisch zu quetschen.
»Ich wollte nicht aufstehen. Ich will sie dir geben«, sagt Honey. Sie wirft mir aus mit schwarzem Eyeliner umrandeten Augen einen kurzen Blick zu und manövriert das Baby vorsichtig über den Tisch auf mich zu.
»O nein. Nein. Ihr habt es da so gemütlich.«
»Jetzt sei kein Feigling. Nimm sie schon«, beharrt Honey mit einem halben Lächeln. »Wie hast du uns eigentlich gefunden?«
»Ich war erst unten auf dem Wagenplatz und bin da Patrick begegnet. Er hat mir gesagt, dass du wieder zu Hause bist.« Ich werfe einen Blick auf Dinny, ich kann nicht anders. Er beobachtet mich aufmerksam, aber ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Ich lasse meine Tasche fallen und nehme Haydee von ihrer Mutter entgegen. Ein kleines rosiges Gesicht, noch in zornige Falten gelegt, unter einem Schopf dunkler Haare, so fein wie Spinnweben. Sie rührt sich nicht, als ich mich auf die Armlehne des Sofas setze, und auch nicht, als ich sie auf die Stirn küsse und den Babyduft nach zarter Haut und Milchspucke schnuppere. Auf einmal bin ich neugierig – wie es sich wohl anfühlen würde, wenn das mein Baby wäre? In diese Geheimnisse eingeweiht zu sein: die Kraft, die in Beths Blick steckt, wenn sie ihren Sohn beobachtet, die Art, wie er sie aufrichtet, sie ganz und vollständig macht, indem er sich einfach nur im selben Raum aufhält. Diese kleinen Geschöpfe, die solche Macht über uns haben. Ich spüre ein Verlangen, das ich noch nie zuvor in mir wahrgenommen habe.
»Sie ist ja winzig «, sage ich atemlos, und Honey verdreht die Augen.
»Ich weiß. Die viele Mühe und die ganzen Speckfalten am Bauch, und alles nur für einen Winzling von gerade mal fünf Pfund!«, sagt sie, aber sie kann nicht verbergen, wie glücklich sie ist, wie stolz. Da ich diese Initiation nun absolviert habe, scheint die Atmosphäre im Raum entspannter zu werden.
»Sie ist bezaubernd, Honey. Gut gemacht! Schreit sie viel?«
»Nein, bis jetzt nicht. Sie ist ziemlich cool.« Honey beugt sich zu mir vor. Sie kann es nicht lange aushalten, auch nur auf Armeslänge von ihrem Kind getrennt zu sein. Aus nächster Nähe sehe ich die dunklen Schatten unter ihren Augen. Ihre Haut ist so blass, dass blaue Adern hindurchschimmern, die sich über ihre Schläfen ziehen. Sie sieht müde, aber selig aus.
»Den Dreh mit dem Schreien kriegt sie schon noch raus, verlass dich drauf«, verkündet Mo mit der Stimme bitterer Erfahrung, und Honey wirft ihr einen leicht rebellischen Blick zu.
»Ich koche noch einen Tee«, sagt Keith, erhebt sich aus seinem Sessel und sammelt leere Becher auf einem Tablett aus Blech. »Sie trinken doch eine Tasse mit, Erica?«
»O ja, gerne. Danke.« Ich spüre, dass mich jemand ansieht, und wende mich nach rechts. Dinny beobachtet mich immer noch. Diese dunklen Augen sind jetzt wieder so schwarz wie die einer Robbe und sehen mich unverwandt an. Ich begegne seinem Blick etwa zwei Herzschläge lang, dann schaut er weg und steht abrupt auf. Plötzlich frage ich mich, ob er etwas dagegen hat, dass ich mich seiner Familie so aufdränge.
»Ich muss los«, sagt er.
»Was? Warum denn?«, fragt Honey.
»Ich habe … noch was zu tun.« Er beugt sich vor, küsst seine Schwester auf den Kopf, zögert kurz und wendet sich dann mir zu. »Wir gehen morgen Abend alle in den Pub. Falls du und Beth auch kommen wollt …?«, fragt er.
»Oh, danke. Ja – ich werde Beth fragen«, sage ich.
»Trinkt einen für mich mit«, brummt Honey. »Es ist Silvester, und ich werde zu Hause bleiben und um neun im Bett liegen.«
»Ach, du wirst dich bald daran gewöhnen, alles Mögliche zu verpassen, keine Sorge«, erklärt Mo munter, und Honey macht ein langes Gesicht.
»Ich komme später wieder. Bis dann, Mum.« Dinny schmiegt kurz die Hand an Mos Wange und verlässt mit steifen Schritten den Raum.
»Also, was hast du mit ihm angestellt?«, fragt Honey mich. Sie lächelt zwar, aber sie wirkt gleichzeitig ein wenig argwöhnisch.
»Wie meinst du das?«, entgegne ich verblüfft.
»Er ist zusammengezuckt wie ein erschrockenes Kaninchen, als du hereingekommen bist«, erklärt sie, doch ihre Aufmerksamkeit richtet sich schon wieder auf Haydee, und ich gebe ihr das Baby zurück.
Keith kommt mit dem Tablett voll dampfender Becher herein, und die Lichterkette am Weihnachtsbaum in der Ecke blinkt – an, aus, an, aus, langsam, dann schneller, und wieder langsamer. Mo erkundigt sich nach dem Haus, nach Meredith und Beth und Eddie.
»Nathan
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