Das Geheime Vermächtnis
tot und begraben sind, und erst dann wird uns klar, dass wir sie noch vieles fragen wollten«, sagt sie ein wenig traurig.
»Ach, ich bin nicht sicher, ob ich von Meredith jemals irgendwelche Antworten bekommen hätte«, entgegne ich trocken. »Ich war nicht gerade ihr Liebling.«
»Also, wenn Sie sich für die Geschichte des Hauses interessieren, sollten Sie sich mal mit dem alten George Hathaway drüben im Corner Cottage unterhalten«, wirft Keith ein und stützt seine sehnigen Ellbogen auf die knochigen Knie.
»Ach ja? Wer ist George Hathaway?«
»Ein netter alter Knabe. Er hat fast sein ganzes Leben lang in der Autowerkstatt an der Straße nach Devizes gearbeitet. Jetzt ist er natürlich in Rente. Aber seine Mutter war Dienstmädchen oben im Herrenhaus, vor vielen Jahren.«
»Vor wie vielen Jahren genau?«, frage ich ungeduldig.
»Ach!« Keith hebt eine knotige alte Hand und macht eine wegwerfende Geste. »Noch in der alten Zeit. Wissen Sie, damals sind die Leute sehr früh irgendwo in Dienst gegan gen. Ich glaube, sie war noch ein junges Mädchen, als sie dort angefangen hat. Das muss vor dem Ersten Weltkrieg gewesen sein, ja.« Ich atme tief durch, und vor Aufregung kribbeln meine Handflächen. »Wissen Sie, welches Haus das Corner Cottage ist? Aus dem Dorf raus in Richtung Pewsey, wo die Straße eine scharfe Linkskurve macht? Genau da ist es, das kleine Reetdachhaus mit dem grünen Gartentor.«
»Ja, das kenne ich. Vielen Dank.« Ich verabschiede mich kurz darauf, als Honey auf dem Sofa einnickt und Mo ihr das Kind abnimmt und es in die Babytrage legt.
»Komm doch mal wieder vorbei, ja? Und bring Beth mit – es wäre so schön, euch beide wiederzusehen«, sagt Mo, und ich nicke, während mir die Kälte draußen schon in die Nase zwickt.
Ich gehe schnurstracks zum Corner Cottage, das etwas abseits am Rand von Barrow Storton liegt. Die ehemals weißen Wände sind jetzt fleckig und grau. An manchen Stellen ist der Putz rissig, das durchhängende Reetdach hat sich dunkel verfärbt. Das Gartentor ist geschlossen, aber ich mache es einfach auf und gehe durch den von Unkraut überwucherten Vorgarten. Ich klopfe dreimal kräftig an die Tür. Der schwere Klopfer ist so kalt, dass mir die Finger von der Berührung brennen.
»Ja, meine Liebe?« Ein alter Mann, klein und rüstig, schaut mich freundlich an, doch die Türkette bleibt vorgelegt.
»Äh, hallo. Bitte entschuldigen Sie die Störung – sind Sie George Hathaway?«, frage ich und ordne rasch meine Gedanken.
»Der bin ich, meine Liebe. Kann ich etwas für Sie tun?«
»Mein Name ist Erica Calcott, und ich wollte …«
» Calcott sagen Sie? Aus dem Herrenhaus?«, unterbricht mich George.
»Ja, genau. Ich wollte Sie nur …«
»Einen Augenblick!« Die Tür fällt mir vor der Nase zu und wird eine Sekunde später ohne die Kette wieder geöffnet. »Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass einmal eine Calcott vor meiner Tür steht. Welch eine Überraschung! Nur herein, herein! Stehen Sie nicht so auf der Schwelle herum!«
»Danke sehr.« Ich trete ein. Im Gegensatz zum äußeren Anschein ist das Häuschen innen sauber, ordentlich und warm. Eine angenehme Überraschung.
»Kommen Sie mit in die Küche. Ich setze gleich Wasser auf, und dann können Sie mir erzählen, was Sie zu mir führt.« George eilt mir voran einen schmalen Flur entlang. »Wäre Kaffee recht?« Die Küche ist niedrig und vollgestopft mit allem möglichen Krimskrams. Neben Keksdosen, Pfannenwendern, rostigen Sieben und Zwiebelschalen liegen hier auch andere Dinge herum. Dinge, an denen man erkennt, dass in diesem Haus eine Frau fehlt. Ein schwarzes, schmieriges Bauteil aus irgendeinem Motor auf dem Tisch, ein Satz Schraubenschlüssel auf dem Kühlschrank. George bewegt sich so flink und behände, wie man es von einem Mann in seinem Alter nicht erwarten würde. Ordentlich gekämmte weiße Locken umrahmen ein schmales Gesicht. Seine Augen haben eine auffällige hellgrüne Farbe, wie ein Feuer aus feuchtem Treibholz.
»Bin selbst erst gestern Abend nach Hause gekommen – Sie haben Glück, dass Sie mich erwischt haben. Ich war über Weihnachten bei meiner Tochter, drüben in Yeovil. War schön, sie zu sehen, und die Enkel natürlich, aber es ist genauso schön, wieder zu Hause zu sein, nicht wahr, Jim?« Er spricht mit einer kleinen, dicken, rauhaarigen Promenadenmischung. Der Hund erhebt sich langsam in seinem Körbchen und kommt dann herbeigewatschelt, um meine Beine zu
Weitere Kostenlose Bücher