Das Geheime Vermächtnis
Herrenhauses eingeladen, Girlanden und Wimpel aufgehängt und so was alles. So ungefähr das einzige Mal, soweit ich mich erinnern kann, dass sie etwas für die Allgemeinheit getan haben. Das ganze Dorf ist da zusammengelaufen, um sich das mal anzuschauen, denn sogar für so feine Pinkel, und ich hoffe, Sie nehmen’s mir nicht übel, wenn ich das sage, Miss, waren die Calcotts ansonsten die schlimmsten Geizkrägen, die man je erlebt hat. Keiner von uns wurde jemals dort hereingebeten.«
»Bitte nennen Sie mich Erica«, sage ich. »Also, hat Ihre Mutter sonst noch etwas über ihre Zeit bei Caroline erzählt? Etwa, warum sie als Diebin beschuldigt wurde, obwohl sie beteuert hat, dass sie es nicht war?« Nun schaut George etwas verlegen drein.
»Ist eine ziemlich wilde Geschichte, muss man sagen. Mutter war ein sehr aufrechter und ehrlicher Mensch. Aber die meisten Leute wollten nicht glauben, was sie behauptet hat, darum hat sie nach einer ganzen Weile aufgehört, darüber zu reden. Aber ich erinnere mich, wie sie mir erzählt hat, dass sie wohl etwas wusste, das sie nicht wissen durfte. Sie hat etwas herausgefunden, das niemand …«
»Was war das?« Die Luft in meiner Lunge scheint sich auszudehnen, sodass ich kaum noch atmen kann.
»Ich sag’s Ihnen ja, wenn Sie mich ausreden lassen!«, tadelt George mich mit einem Lächeln. »Sie hat gesagt, ein Baby sei aus dem Haus verschwunden. Sie wusste nicht, wessen Kind es war – es ist eines Tages einfach aufgetaucht, und das war eines von den Dingen, die ihr niemand glauben wollte. Babys tauchen schließlich nicht einfach so auf, nicht wahr? Irgendein Mädchen muss es ja ausgetragen und geboren haben. Aber sie hat es hoch und heilig geschworen – dass ein Baby im Haus war, das wieder verschwunden ist, genauso plötzlich, wie es aufgetaucht war. Und zu derselben Zeit wurde ein Baby draußen im Wald gefunden, und die Zigeuner – Mos Leute – haben es durchs ganze Dorf getragen und herumgefragt, wem es gehört. Niemand hat sich gemeldet, also haben sie das Kind bei sich aufgenommen. Aber meine Mutter konnte keine Ruhe geben – sie hat jedem, der es hören wollte, Stein und Bein geschworen, dass dieses Baby eines Tages im Herrenhaus war und dass Lady Calcott es weg gebracht und ausgesetzt hat. Natürlich wollte Lady Calcott sie da nicht mehr im Haus haben. Hat sie beschuldigt, irgendein kleines Schmuckstück gestohlen zu haben, und das war’s. Meine Mutter wurde so schnell hinausgeworfen, dass sie nicht mal mehr Zeit hatte, ihren Mantel überzuziehen. Dazu kann sich jeder seinen Teil denken. Ein paar Leute im Dorf waren der Meinung, meine Mutter hätte sich die Geschichte mit diesem Baby ausgedacht, um sich zu rächen, verstehen Sie? Um den Calcotts Ärger zu machen, weil sie ihre Anstellung verloren hatte. Sie war ja noch so jung, als das alles passiert ist. Höchstens fünfzehn. Vielleicht war sie zu jung für eine so verantwortungsvolle Stellung. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie eine solche Lüge erzählt hätte. Und auch nicht, dass sie etwas gestohlen hat. Sie war grundehrlich, meine alte Mum.« George hält inne und blickt versonnen in die Vergangenheit, und ich bemerke, dass ich den Atem angehalten habe. Mein Herz klopft beinahe schmerzhaft, und meine Finger zittern ein wenig. Ich tippe mit dem Fingernagel auf das verschwommene Baby auf dem Foto aus New York.
»Das ist das Baby. Dies ist das Baby, das im Herrenhaus aufgetaucht ist. Das Baby, das Caroline draußen im Wald ausgesetzt hat. Ihre Mutter hat nicht gelogen«, sage ich ihm. George starrt mich mit aufgerissenen Augen an, und ich spüre die wunderbare Erleichterung, etwas abgeschlossen, ein Rätsel gelöst zu haben, egal wie lange das auch alles her sein mag.
Ich erzähle ihm, was ich weiß, was ich aus ihren Briefen, diesem Foto, dem Beißring und dem fehlenden Kissenbezug mit den gelben Sumpflilien geschlossen habe. Und berichte ihm von der uralten Feindseligkeit gegenüber den Dinsdales. Ich erzähle, bis mein Mund ganz trocken ist und ich kalten Kaffee trinken muss, um mir den Gaumen zu befeuchten. Und als ich fertig bin, fühle ich mich völlig erschöpft, aber glücklich. Es kommt mir so vor, als hätte ich etwas Kostbares wiedergefunden, von dem ich dachte, es sei für immer verloren. Als hätte ich eine riesige Lücke in meiner Vergangenheit endlich aufgefüllt – in unserer Vergangenheit, meiner, Beths und Dinnys. Er ist mein Cousin. Es sind nicht zwei Familien, die einander
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