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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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an Jacken gezerrt, der Gegner herumgewirbelt und zu Boden gestoßen. Es gab ein paar ausgerissene Haare, blaue Flecken am Schienbein, aufgeschrammte Knie. Dann bemerkte die Pausenaufsicht den kleinen Zuschauerauflauf, oder einer der Jungen begann zu weinen. Dem Sieger gebührte das Recht, abzuhauen, der Verlierer musste dableiben und behaupten, es sei nichts passiert.
    Aber bei Dinny und Henry war es anders. Wir waren auf den Grabhügel gestiegen, um Testflüge mit den Modellflugzeugen zu veranstalten, die wir den ganzen Vormittag lang aus Packpapier und Eisstielen gebastelt hatten. Wir brauchten einen guten Startplatz, lautete die Schlussfolgerung – richtige thermische Aufwinde, erklärte Dinny. Meredith sorgte im Dorf für Ärger, wie üblich. Sie hatte den Pachtbauern auf ihrem Land verboten, Wanderarbeiter jeglicher Art zu beschäftigen. Dadurch fehlten den Bauern die Hilfsarbeiter, die sie brauchten und sich leisten konnten, und den Dinsdales die Arbeit, die sie sonst jeden Sommer zuverlässig hier gefunden hatten. Das schien natürlich Merediths Ziel zu sein, obwohl ich mir da inzwischen gar nicht mehr sicher bin. Sie muss gewusst haben, dass sie irgendwann würde nachgeben müssen. Ich glaube, sie hat das nur getan, um die Dinsdales an etwas zu erinnern. Sie daran zu erinnern, dass Meredith Calcott hier war und sie hasste. Es gab öfter Auseinandersetzungen im Haus, und wir hatten einige davon belauscht. Henry natürlich ebenfalls. Er folgte uns zum Grabhügel und benutzte dieses Wissen als Munition.
    »Solltest du nicht an der Straße sitzen und betteln? Deine ganze Familie wird wohl bald betteln gehen müssen, oder stehlen, natürlich«, verhöhnte er Dinny ohne jede Einleitung. »Jedenfalls werdet ihr euch kein Essen kaufen können. Nicht, wenn ihr hier in der Gegend bleibt.«
    »Halt den Mund, Henry! Geh weg!«, befahl Beth, doch er kräuselte nur verächtlich die Oberlippe.
    »Halt du den Mund! Du kannst mir nicht sagen, was ich zu tun habe! Und ich werde Grandma erzählen, dass ihr mit den dreckigen Zigeunern gespielt habt!«
    »Erzähl es ihr! Ist mir doch egal«, erwiderte Beth. Sie stand angespannt da, so steif und aufrecht wie ein Speer.
    »Das sollte dir aber nicht egal sein – wenn du schon mit dem da befreundet ist, kannst du auch gleich selber eine Zigeunerin werden. Du stinkst schon wie eine. Ich glaube, du bist auch dumm genug, eine zu werden …« Er keuchte, weil er den Hügel heraufgerannt war. Vor Häme bekam er rote Flecken am Hals. Dinny funkelte ihn so wütend an, dass ich in ängstlicher Verzweiflung meinen Papierflieger warf.
    »Schaut! Schaut, wie weit er fliegt!«, rief ich und hüpfte vor Aufregung. Aber niemand sah hin.
    »Was ist denn los mit dir? Hast du noch nicht sprechen gelernt? Bist du zu dumm dazu?«, verspottete Henry Dinny. Dinny starrte ihn an, biss die Zähne zusammen und sagte nichts. Sein Schweigen war eine Herausforderung, und Henry scheute nicht davor zurück. »Übrigens habe ich gerade deine Mutter gesehen. Sie hat in unserer Mülltonne nach deinem Abendessen gesucht!« Dinny stürzte sich auf ihn, so schnell, dass ich seine Bewegung erst wahrnahm, als er gegen Henry prallte und beide den Hügel hinabtaumelten.
    »Nicht!«, schrie Beth, aber ich weiß nicht, an welchen der beiden das gerichtet war. Ich stand da wie versteinert, starr vor Schreck. Das war keine Pausenhof-Rauferei, niemand zerrte hier an Jacken. Sie sahen aus, als wollten sie einander umbringen. Ich sah gebleckte Zähne, geballte Fäuste, gespannte jugendliche Muskeln.
    Dann landete Henry einen Zufallstreffer: Dinny hatte eine Hand auf seinem Gesicht, um ihn zu kratzen, deshalb waren Henrys Augen geschlossen. Er schlug wild um sich und hatte Glück: Seine Faust krachte gegen Dinnys Nase und schlug ihn zu Boden. Dinny saß eine Sekunde lang verblüfft da, dann schoss ihm hellrotes Blut in Strömen aus der Nase und tropfte ihm vom Kinn. Beth und ich waren stumm vor Entsetzen. Darüber, dass Henry gewonnen hatte und dass Dinny so stark blutete. Solches Blut hatte ich noch nie gesehen. So rot, so schnell. Nicht wie die matten, verschmierten Flecken auf den Brettern des Fleischers, wenn ich mit Mum einkaufen ging. Dinny hielt sich die hohle Hand unters Kinn und fing das Blut auf, als wollte er es behalten. Es muss ziemlich wehgetan haben. Tränen stiegen ihm in die Augen und liefen über seine Wangen wie kleine Meuterer, die sich dem Blut anschließen wollten. Als Henry begriff, was ihm gelungen war,

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