Das Geheime Vermächtnis
sucht nach einer Möglichkeit, sie festzuhalten, unsere Zeit hier festzuhalten. Ich bin noch nicht fertig. Ich bin kribbelig vor Ungeduld.
»Ein paar Tage von vier Wochen Schulferien! Das ist wirklich nicht fair.«
»Aber das waren ein paar sehr wichtige Tage«, widerspreche ich mit hoher Stimme. Ich habe den Faden verloren. Ich sollte sie drängen, härter zu kämpfen, damit sie Eddie wiederbekommt – hierher zurück, zu seinem Freund Harry. Beth nippt an ihrem Whisky. Ich beobachte, wie sich ihr Kehlkopf beim Schlucken bewegt.
»Ich weiß. Es ist nur … er fehlt mir so sehr, Rick. Ich weiß gar nicht, wozu ich eigentlich da bin, wenn ich mich nicht um ihn kümmern kann«, sagt sie verloren.
»Du bist dazu da, seine Mutter zu sein, ob er nun im selben Raum ist oder nicht. Und um meine große Schwester zu sein. Und was im Augenblick am wichtigsten ist: Du bist dazu da, Whisky mit mir zu trinken, weil ich nicht die Absicht habe, die Einzige zu sein, die das neue Jahr mit Kopfschmerzen beginnt«, erkläre ich.
»Dann runter damit«, sagt Beth ernst, kippt den Inhalt des Glases auf einmal herunter und prustet, als der Whisky ihr in der Nase brennt.
»So ist es recht!«, sage ich lachend.
Es ist bitter kalt draußen. Die Kälte beißt sich einfach durch unsere Kleidung und das Glühen des Alkohols. Unsere Augen tränen, die Lippen werden rissig. Wir schreiten schnell aus – mit zusammengebissenen Zähnen, gekrümmt und wenig elegant. Der unerbittliche Wind fegt über den tiefschwarzen Himmel. Überall im Dorf brennen Lichter gegen die einsame Nacht, und die Hitze und der Lärm vieler Menschen schlagen mir wie eine Welle entgegen, als ich die Tür des Pubs öffne. Er ist brechend voll. Wir atmen den Atem anderer Leute ein, schwimmen durch den schweren, fröhlichen Gestank von Alkohol und vielen Leibern. Stimmen, so laut, so nah. Ich bin sicher, dass das Schweigen in Beths tiefstem Inneren diesem Ansturm nicht wird standhal ten können. Ich bahne uns einen Weg zur Bar und suche die Menge nach Patrick oder Dinny ab, oder sonst jemandem, den ich kenne. Es sind Harrys Dreadlocks, die ich schließlich erspähe, in der großen Nische ganz hinten im Pub. Ich kaufe zwei Whisky Soda, weise mit einem Nicken nach hinten und bedeute Beth augenzwinkernd, mir zu folgen.
»Hallo«, rufe ich, als ich neben dem Tisch stehen bleibe. Ich erkenne Gesichter von der Sonnenwendfeier, Gesichter, die ich auf dem Wagenplatz habe kommen und gehen sehen. Denise, Sarah und Kip. Dinny und Patrick natürlich. Patrick grinst mich an, und Dinny lächelt. Seine Augen weiten sich vor Überraschung, als er Beth erblickt. Eine Sekunde später frage ich mich, ob er vielleicht Beth angelächelt hat, nicht mich, aber ich bin nicht sicher.
»Ah, da kommen die Gutsherinnen! Kommt her und setzt euch zu uns!«, ruft Patrick und weist mit großzügiger Geste auf die ganze Runde. Seine Wangen sind rosig, die Augen leuchten. Harry tätschelt meinen Arm, und spontan beuge ich mich zu ihm hinab, küsse ihn auf die Wange und spüre seinen rauen Bart. Dinny starrt mich an. Auf der U-förmigen Sitzbank der großen Nische wird gerutscht und zusammengerückt und Platz für Beth und mich geschaffen.
»Ich war noch nie hier drin«, rufe ich. »Als wir letztes Mal hier waren, waren wir noch zu jung!«
»Das ist ja eine Schande! Tja, das ist ab jetzt eure Stammkneipe, also machen wir euch gern damit bekannt. Cheers!« Patrick stößt mit uns an. Mein kalter Drink schwappt über und Dinny auf den Handrücken.
»Entschuldigung«, sage ich, und er zuckt mit den Schultern.
»Kein Problem.« Er leckt sich den Whisky von der Hand und verzieht leicht das Gesicht. »Ich verstehe nicht, wie ihr dieses Gift trinken könnt.«
»Nach dem vierten oder fünften Schluck gewöhnt man sich daran«, entgegne ich fröhlich. »Und du, gewöhnst du dich allmählich daran, Onkel zu sein?«
»Nein! Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie ein Baby bekommen hat – vor fünf Minuten war sie selbst noch eins, verstehst du?« Dinny neigt den Kopf zur Seite und grinst schief.
»Genieße sie so richtig, solange sie noch klein ist«, rät Beth ihm. Ihre Worte haben Mühe, durch das Stimmengewirr zu dringen. »Sie wachsen so schnell! Du glaubst gar nicht, wie schnell«, versucht sie es noch einmal lauter.
»Tja, ich schätze, ich kann mir sowieso die Rosinen rauspicken. Ich kann Spaß mit dem Kind haben und es seiner Mutter zurückgeben, wenn es stinkt oder zu heulen anfängt.«
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