Das Geheime Vermächtnis
doch, dass das nicht möglich war. Sie setzte sich in den Schatten der Bäume und weinte leise um Corin, der ihr nicht mehr helfen konnte.
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Drum soll jede Jahreszeit dir süß sein:
Ob nun der Sommer überall die Erde
In Grün gewandet; ob vom Schnee umringt
Auf kahlem Apfelbaum das Rotkehlchen
Im Astmoos sitzt und singt, indes das Strohdach
Daneben in der Sonne raucht; ob klatschend
Die Traufe sturmgepeitscht vom Dache schießt;
Ob sie der Frost, geheimnisvoll geschäftig,
Als eisige, verschwieg’ne Zapfen aufhängt
Und stille scheinen läßt im stillen Mond.
Samuel Taylor Coleridge, Frost um Mitternacht
Die Treppen kosten mich die letzte Kraft, und als ich die Badezimmertür erreiche, ringe ich nach Luft. Drinnen brennt Licht, und kleine Dampffähnchen kriechen unter der Tür hindurch. Und das Wasser läuft immer noch. Mit der Hand am Türgriff erstarre ich und schließe einen Moment lang die Augen. Ich habe solche Angst – Angst davor, was ich gleich sehen könnte. Ich denke an Eddie, der Beth das Haar aus dem Gesicht strich, nachdem er von der Schule nach Hause gekommen war und sie gefunden hatte. Wie sehr ich seinen Mut jetzt brauche.
»Beth?«, rufe ich zu verhalten. Keine Antwort. Ich schlucke, klopfe zweimal schnell an die Tür und stoße sie dann auf.
Beth liegt in der Wanne. Ihr Haar treibt um sie herum auf dem Wasser, das gefährlich dicht bis an den Rand gestiegen ist und schon in den Überlauf abfließt. Ihre Augen sind geschlossen, und einen Moment lang glaube ich, ich hätte sie verloren. Sie ist Ophelia, sie wird vor mir verebben, ins stille Nichts davontreiben. Doch dann öffnet sie die Augen und wendet mir das Gesicht zu, und ich bin so erleichtert, dass ich beinahe umkippe. Ich taumele ganz ins Bad und setze mich abrupt auf den Stuhl, auf dem ihre zusammengefaltete Kleidung liegt.
»Rick? Was ist los? Wo sind deine Sachen geblieben?«, fragt sie und drückt mit dem großen Zeh den Wasserhahn zu. Ich habe sie und Dinnys Decke unten in der Eingangshalle fallen lassen, ehe ich losgerannt bin. Ich trage nichts außer nasser, matschbespritzter Unterwäsche.
»Ich dachte … ich dachte …« Aber ich will ihr nicht sagen, was ich dachte. Es kommt mir vor wie ein Verrat, dass ich glaube, sie würde sich so etwas noch einmal antun.
»Was?«, fragt sie, und ihre Stimme wird tonlos und angespannt.
»Nichts«, nuschele ich. Das Licht sticht mir in die Augen, und ich verziehe das Gesicht. »Warum liegst du mitten in der Nacht in der Badewanne?«
»Ich habe doch gesagt, dass ich aufbleiben würde, bis du zurück bist«, entgegnet sie. »Und mir war kalt. Wo warst du denn?«, fragt sie und setzt sich auf, wobei ihr das nasse Haar glatt an den Brüsten klebt. Sie zieht die Knie an und umschlingt sie mit den Armen. Ich kann jede Rippe und alle Wirbel in ihrem Rücken sehen, die abwärts ins Wasser marschieren.
»Ich war bei Dinny. Ich bin … in den Teich gefallen.«
»Du bist was ? Und was hatte Dinny da zu suchen?«
»Er hat mich reinfallen hören. Und mir herausgeholfen.«
»Du bist einfach so hineingefallen?«, fragt sie ungläubig.
»Ja! Zu viel Whisky, schätze ich.«
»Und bist du dann auch einfach … aus deinen Kleidern gefallen? Oder hat er dir da auch herausgeholfen?«, fragt sie spitz. Ich sehe ihr fest in die Augen. Jetzt bin ich wütend – weil sie mir so einen Schrecken eingejagt hat. Weil ich mir selbst so einen Schrecken eingejagt habe.
»Wer ist jetzt eifersüchtig?«, gebe ich ebenso spitz zurück.
»Ich bin nicht …«, beginnt sie, doch dann legt sie das Kinn auf die Knie und wendet den Blick von mir ab. »Es ist merkwürdig , okay, Erica? Dass du hinter Dinny her bist, ist merkwürdig.«
»Warum denn? Weil er zuerst dir gehört hat?«
»Ja!«, ruft sie aus, und ich starre sie an und staune über dieses Eingeständnis. »Lass dich bloß nicht mit ihm ein, ja? Das kommt mir vor wie Inzest! Es ist einfach … falsch!« Sie kämpft darum, sich zu erklären, und breitet die Hände aus. »Ich halte das nicht aus.«
»Es ist nicht falsch. Die Vorstellung gefällt dir bloß nicht, das ist alles. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich glaube, er ist immer noch in dich verliebt«, sage ich leise und fühle mein eigenes Herz ein Stück sacken.
Ich warte ab, wie sich ihr Gesichtsausdruck verändert, doch es passiert nichts.
»Wir sollten fortgehen, Erica. Siehst du das nicht? Wir sollten von hier wegfahren und nie wiederkommen. Das wäre bei Weitem das
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