Das Geheime Vermächtnis
gerade macht, und er sagt zwar nichts, zeigt es mir aber, indem er die Finger öffnet. In einer Hand hält er ein winziges Taschenmesser, in der anderen ein gebogenes Stück Baumrinde, in das Muster eingeritzt sind, geometrische Formen, die aneinanderstoßen und sich überlappen. Er ist jetzt für mich ein lebendes Wunder. Ich versuche, ihm die Hand auf den Arm zu legen, aber er rutscht beiseite – er will das nicht. Ich forcie re nichts. Ein Wunder. Dass Henry zu dieser sanftmütigen Seele heranwachsen konnte. Hat Beths Stein ihn so sehr geschädigt, oder hat er vielmehr etwas aus Henry herausgeschlagen? Die Bosheit? Die kindische Arroganz, die Aggression? All die niederträchtigen Dinge, Merediths gesamtes Vermächtnis, all den Hass, den sie ihm eingeimpft hat. Er ist ein vollkommen unbeschriebenes Blatt.
Ich lasse ihn weiterschnitzen, aber ich winde seine Dreadlocks zu einem wirren Knoten an seinem Hinterkopf zusammen, damit ich sein Gesicht sehen kann. Ich sitze da, er arbeitet vor sich hin, und ich beobachte sein Gesicht. Und langsam dringt Vertrautes an die Oberfläche. Ein paar seiner Züge legen sich auf die Umrisse, die ich kenne. Nur hier und da, nur einzelne Spuren. Die Calcott-Nase, die wir alle haben, mit dem schmalen Nasenrücken. Der blaugraue Ton seiner Iris. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass ich ihn studiere. Er bemerkt es offenbar gar nicht.
»Ich glaube, er hat dich erkannt«, sagt Dinny leise und bleibt vor uns stehen. Seine Arme hängen neben dem Körper herab, und die Fäuste sind geballt, als wäre er für irgendetwas bereit. Bereit, zu reagieren. »Als du ihm zum ersten Mal im Wald begegnet bist und er dich aufgehalten hat. Ich glaube, da hat er dich erkannt.« Ich blicke zu Dinny auf, aber ich kann nicht mit ihm sprechen. Noch nicht. An seinen Unterarmen stehen Sehnen hervor, längliche Erhebungen unter der Haut, die von den geballten Fäusten gespannt werden. Er hatte recht. Alles hat sich verändert. Auf der anderen Seite der Lichtung tritt Patrick aus seinem Wagen und nickt mir ernst zu.
Ich gehe die Treppe hinauf, um Beth zu holen, als die Sonne untergeht. Sie liegt schon seit Stunden im Bett und ruht sich aus. Verdaut das Gehörte. Ich sage ihr, wer unten ist, und sie erklärt sich bereit, ihn zu sehen. Mit dem feierlichen Ernst und dem sichtbaren Grauen eines Menschen auf dem Weg zum Galgen. Ihr grob abgesäbeltes Haar steht kreuz und quer vom Kopf ab, und ihr Gesicht ist vollkommen reglos, unnatürlich still. Es muss sie gewaltige Willenskraft kosten, es so stillzuhalten. In der Küche brennt Licht. Dinny und Henry sitzen einander am Tisch gegenüber, spielen Schnipp-Schnapp und trinken Tee, als hätte die Welt sich nicht gerade aufgebäumt und alles abgeworfen, worauf unser Leben beruhte. Dinny blickt auf, als wir eintreten, aber Beth hat nur Augen für Henry. Sie setzt sich in sicherer Entfernung hin und starrt ihn an. Ich beobachte sie und warte ab. Henry mischt unbeholfen die Karten, lässt ein paar auf den Tisch fallen und schiebt sie eine nach der anderen in den Stapel zurück.
»Kennt er mich?«, flüstert Beth mit hauchdünner, unsicherer Stimme. Wie etwas, das jeden Moment brechen wird. Ich setze mich neben sie und strecke schon mal die Hände aus, um sie aufzufangen.
Dinny zuckt mit den Schultern. »Das kann man schwer sagen. Er scheint … sich in deiner Gegenwart wohlzufühlen. Bei euch beiden. Normalerweise braucht er eine Weile, bis er sich an Fremde gewöhnt, also …«
»Ich dachte, ich hätte ihn umgebracht. All die Jahre lang dachte ich, ich hätte ihn umgebracht …«
»Hast du auch«, sagt Dinny tonlos. Schockiert reißt sie den Mund auf. »Du hast ihn bewusstlos und mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegen lassen …«
»Dinny! Nicht …«, versuche ich ihn aufzuhalten.
»Wenn ich ihn nicht herausgezogen hätte, wäre er tot. Also vergiss das nicht, ehe du anfängst, darüber zu urteilen, was ich getan habe, was meine Familie getan hat …«
»Niemand verurteilt hier irgendwen! Wir waren alle noch Kinder … wir wussten nicht, was wir tun sollten. Und ja, es war ein Glück, dass du so schnell reagiert hast, Dinny«, sage ich.
»Das würde ich kaum Glück nennen.«
»Na, dann nenn es, wie du willst.«
Dinny holt Luft und sieht mich mit schmalen Augen an, doch da beginnt Beth zu weinen. Keine leisen Tränen des Selbstmitleids. Das ist ein hartes, hässliches Schluchzen, das sich ihrem Herzen entreißt. Ihr Mund ist ein tiefes, rotes Loch. Leise
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