Das Geheime Vermächtnis
Klageschreie steigen aus einer Dunkelheit in ihr empor, die beinahe greifbar ist, und sie sind schrecklich anzuhören. Ich setze mich wieder hin und schlinge die Arme um sie, als könnte ich sie zusammenhalten. Dinny geht zum Fenster und lehnt die Stirn an die Scheibe, als wollte er nur noch weg von hier. Ich drücke die Wange an Beths Rücken und spüre, wie ihr Schaudern durch sie hindurch- und in mich hineinläuft. Henry sortiert die Karten nach Farben und stapelt sie ordentlich auf dem Tisch. Ich kann nicht einmal ansatzweise meine Gefühle für Dinny entschlüsseln, was dieses Geheimnis betrifft, das er so lange gewahrt hat. Henry, durch Englands Labyrinth aus Rastplätzen und Landstraßen geschmuggelt, in Transportern, Wohnwägen und umgebauten Lastwagen; nur ein kleiner Schritt zur Seite, doch eine ganze Welt entfernt von der Suche, bei der all die ordentlichen kleinen Dörfer Haus für Haus durchkämmt wurden. Die Vorstellung ist zu groß. Ich kann sie nicht deutlich erkennen.
Wir trennen uns eine Weile später, um unseren jeweiligen Schützling ins Bett zu bringen. Dinny geht mit Henry in die Nacht hinaus, ich steige mit Beth die Treppe hinauf. Ich glaube, ihr Geist schreibt sich gerade neu, wie meiner es auch tun musste, und dafür braucht sie Zeit. Ich hoffe, das ist alles, was sie braucht. Ihr Gesicht sieht wund aus. Nicht nur gerötet, nicht nur nach weggeschrubbten Tränen. Wund, als hätte es sich gerade erst neu gebildet, als müsste es noch feste Formen annehmen, vom Leben gezeichnet werden. Es hat eine kindliche Zartheit. Ich hoffe zu erkennen, dass sich auch etwas abgeschält hat, etwas von ihrer Verschlossenheit, etwas von den Schatten und Ängsten. Noch zu früh, um das zu sagen. Ich ziehe ihr die Decke bis ans Kinn, wie eine Mutter es tun würde, und sie lächelt ein wenig spöttisch.
»Erica«, sagt sie mit einem kleinen Seufzen, »wie lange bist du eigentlich schon in Dinny verliebt?«
»Was?« Ich zucke wegwerfend mit einer Schulter und erkenne zu spät, dass das eine seiner Gesten ist, die ich mir angeeignet habe.
»Du kannst es nicht leugnen. Es steht dir ins Gesicht geschrieben.«
»Du solltest jetzt schlafen. Das war ein harter Tag.«
»Wie lange?«, drängt sie und hält meine Hand fest, als ich mich abwende. Ich sehe sie an. In diesem Licht ist der Ausdruck ihrer Augen unergründlich. Ich kann nicht lügen, aber ich kann ihr auch nicht antworten.
»Ich weiß es nicht«, sage ich knapp. »Ich wüsste nicht, dass ich überhaupt in ihn verliebt bin.« Ich gehe steif zur Tür und habe das Gefühl, dass jede Linie meines Körpers, jede noch so kleine Bewegung mich verrät.
»Erica!«
»Was ist?«
»Ich … ich war froh, als du gesagt hast, du könntest dich nicht daran erinnern, was passiert ist. Ich wollte nicht, dass du dich daran erinnerst. Du warst noch so klein …«
» So klein nun auch wieder nicht.«
»Jedenfalls sehr jung. Nichts von alledem war deine Schuld, das weißt du hoffentlich. Ich wollte nicht, dass du dich daran erinnerst, weil ich mich so dafür geschämt habe. Nicht dafür, dass ich einen Stein nach ihm geworfen habe, sondern weil ich weggelaufen bin. Weil ich ihn da habe liegen lassen, und weil ich Mum und Dad nie etwas davon gesagt habe. Ich weiß auch nicht, warum. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe! Das konnte ich noch nie verstehen!«
»Das war nicht …«
»Ich musste mich binnen eines Augenblicks entscheiden. So habe ich später darüber gedacht, als ich älter war. Eine Entscheidung, die in einem einzigen Moment gefällt wird, und wenn sie erst getroffen ist, kann man nicht mehr zurück. Stellt man sich einem Fehler, auch einem so schrecklichen, oder rennt man davor weg? Ich bin weggerannt. Ich habe versagt.«
»Du hast nicht versagt, Beth.«
»Doch, das habe ich. Du hast immer nur getan, was ich getan habe. Ich war die Anführerin, die Älteste. Wenn ich sofort etwas gesagt hätte, dann hätte er vielleicht überlebt.«
»Er hat doch überlebt!«
»Er hätte vielleicht normal weitergelebt! Nicht so schwer geschädigt …«
»Beth, das ist alles sinnloses Zeug. Er hat überlebt. Wir können nichts mehr rückgängig machen. Bitte hör auf, dich damit zu quälen. Du warst noch ein Kind.«
»Wenn ich an Mary und Clifford denke …« Wieder schwimmen Tränen in ihren Augen und fließen schließlich über. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen könnte. Clifford und Mary. Ihr Leben wurde noch vollständiger ruiniert als unseres. Der Gedanke an
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