Das Geheime Vermächtnis
die beiden legt sich wie ein Bleigewicht auf mein Herz.
Ich wache in der bedrängenden Dunkelheit vor dem Morgengrauen auf und schleiche mich hinunter in die Küche. Ein seltsamer Zustand, erschöpft und elektrisiert zugleich. Ich koche starken Kaffee und trinke ihn zu heiß. Der kalte Boden lässt meine Füße durch die dicken Socken taub werden. Die kleine Uhr an der Mikrowelle sagt mir, dass es halb acht ist. Es ist still im Haus bis auf das Knarren der Heizung, die ihren vergeblichen Kampf gegen die Kälte führt. Ich hole mir die Zeitung von gestern, starre darauf hinab und schaffe es nicht einmal, das Kreuzworträtsel zu lösen. Das Koffein stupst mein Gehirn wach, hilft mir aber nicht dabei, klarer zu denken. Wie könnten wir Henrys Eltern nicht sagen, dass er noch lebt? Wie könnten wir das nicht tun? Das geht nicht. Aber sie werden wissen wollen, was passiert ist. Und Clifford wird Gerechtigkeit fordern. Gerechtigkeit, so wie er sie sieht. Er wird die Dinsdales wegen Entführung vor Gericht bringen, wegen unterlassener Hilfeleistung, weil sie Henry nicht ins Krankenhaus gebracht haben. Wahrscheinlich wird er auch Beth und mich anzeigen, obwohl es schwieriger sein dürfte, uns zu belangen. Schwere Körperverletzung vielleicht. Strafvereitelung. Ich habe keine Ahnung, wofür man Kinder vor Gericht stellen kann oder nicht. Aber ich sehe ihn ganz deutlich vor mir, wie er die Zähne in uns alle drei schlägt und schüttelt und schüttelt. Wie könnten wir es ihnen also sagen?
Draußen wird der Himmel langsam hell. Beth erscheint, vollständig angezogen, um zehn Uhr. Sie steht mit ihrer Reisetasche über der Schulter in der Tür.
»Wie fühlst du dich?«, frage ich sie.
»Ich … gut. Ich muss los. Maxwell bringt Eddie morgen nach dem Mittagessen vorbei, und ich muss noch viel vorbereiten, und … und ich muss unbedingt zum Friseur, ehe er kommt. Ich habe ihn dann, bis er am Mittwoch wieder in die Schule muss.«
»Oh, ach so. Ich dachte … ich dachte, wir würden noch einmal über alles reden? Über Henry?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin noch nicht so weit. Noch nicht. Aber ich fühle mich wirklich besser.«
»Gut, gut. Das freut mich, Beth. Wirklich. Ich wünsche mir nur, dass du all das hinter dir lassen kannst.«
»Das wünsche ich mir auch.« Ihre Stimme klingt leichter, beinahe fröhlich. Vielleicht ist es schon eine Vorbereitung auf den Abschied. Dann nimmt sie sehr überzeugend ihre Tasche in die Hand.
»Nur … ich weiß nicht, was wir wegen Clifford und Mary tun sollen. Ob wir es ihnen sagen sollen …«, fahre ich fort. Ich glaube, sie denkt ungefähr das Gleiche wie ich, nur bin ich ihr ein paar Stunden voraus. Sie fährt sich schnell und nervös mit der Zunge über die Lippen.
»Jetzt muss ich erst mal los. Aber ehrlich, Rick, ich finde nicht, dass ich in der Frage, wie es weitergehen soll, irgendetwas zu entscheiden habe. Dazu habe ich kein Recht. Ich will dieses Recht auch gar nicht. Ich habe ihm genug angetan. Ihnen allen. Ich glaube nicht, dass irgendeine Idee von mir noch eine gute Idee sein könnte.« Kleine Schatten huschen wieder über ihr Gesicht.
»Mach dir keine Gedanken darum, Beth. Ich mache das schon.« Ich höre mich so sicher und zuversichtlich an. Sie lächelt mich an, so durchscheinend und wunderschön wie junge Schmetterlingsflügel. Dann kommt sie zu mir herüber und umarmt mich.
»Danke, Erica. Ich schulde dir so viel.«
»Du schuldest mir gar nichts.« Ich schüttele den Kopf. »Du bist meine Schwester.«
Sie drückt mich mit all der Kraft ihres dünnen Körpers.
Als wir ins Auto steigen, fällt Schneeregen vom trüben grauen Himmel, und ich habe gerade den Motor angelassen, als Dinny hinter den Bäumen hervorkommt und an die Scheibe klopft.
»Ich habe gehofft, dass ich dich noch erwische. Ich dachte mir schon, dass du heute Morgen wegfährst«, sagt er zu Beth. Darin liegt nur der Hauch eines Vorwurfs, doch der reicht aus, um eine Falte zwischen ihre Brauen zu ziehen.
»Beth muss zum Bahnhof«, sage ich. Er wirft mir einen kurzen Blick zu und nickt.
»Hör mal, Beth, ich wollte dir nur sagen … also … als ich gestern Nacht gesagt habe, du hättest ihn umgebracht, da habe ich nicht gemeint … dass du das mit Absicht getan hättest oder so«, sagt er. »Ich habe meine Eltern oft gefragt, warum Henry so ein gemeiner Mistkerl war. Warum er so ein kleiner Tyrann war, so ein mieses kleines Aas … Sie haben mir immer wieder erklärt, dass Kinder
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