Das Geheime Vermächtnis
sich so verhalten, weil sie nicht glücklich sind. Aus irgendeinem Grund sind sie voller Angst und Wut, und das lassen sie an anderen Leuten aus. Natürlich habe ich ihnen nicht geglaubt. Ich dachte, es läge einfach daran, dass er ein bösartiger kleiner Fiesling war, aber jetzt glaube ich es. Natürlich ist das wahr. Henry war damals nicht glücklich, und na ja, jetzt ist er es. Er ist der glücklichste, friedfertigste Mensch, den ich kenne. Ich dachte nur … ich dachte, darüber solltet ihr vielleicht auch mal nachdenken.« Dinny schluckt, nickt uns knapp zu und tritt dann vom Auto zurück.
»Danke«, sagt Beth. Sie kann ihm nicht recht in die Augen sehen, aber sie bemüht sich. »Danke für alles, was du getan hast. Und dafür, dass du es nie jemandem erzählt hast.«
»Ich hätte nie etwas getan, das dich verletzt hätte, Beth«, sagt er zärtlich. Die Knöchel meiner Hände am Lenkrad werden weiß. Beth nickt mit gesenktem Blick. »Wirst du je wieder in diese Gegend kommen?«, fragt er.
»Vielleicht. Ich glaube schon. Irgendwann einmal«, antwortet sie.
»Dann also bis dahin, Beth«, sagt Dinny mit einem traurigen Lächeln.
»Auf Wiedersehen, Dinny«, sagt sie leise. Er klopft mit der flachen Hand auf das Autodach, und ich fahre gehorsam los. Im Rückspiegel sehe ich ihn dastehen, die Hände in den Taschen, dunkle Augen in einem finsteren Gesicht. Er bleibt da, bis wir ihn nicht mehr sehen können.
Heute ist Samstag, der dritte Januar. Die meisten Leute werden am Montag wieder zur Arbeit gehen. Ich werde den Familienanwalt der Calcotts anrufen, einen Mr. Dawlish in Marlborough, und ihm sagen, dass er Storton Manor auf den Immobilienmarkt bringen soll. Ich habe Entscheidungen zu treffen, jetzt, da ich wieder vorwärtsgehen kann. Es fehlt nichts mehr, keine Lücken, keine Ausreden, alles weiter hinauszuzögern. Still gehe ich durchs Haus. Ich will weder das Radio noch den Fernseher zur Gesellschaft haben. Ich summe nicht, ich setze die Füße ganz leise auf. Ich will den klaren Glockenton der Wahrheiten hören, die jetzt in meinem Kopf widerhallen. Ich könnte alles so stehen lassen – den riesigen Weihnachtsbaum und all die Stechpalmenzweige, die ich mit Goldfarbe lackiert habe. Sie könnten hierbleiben und Staub und Spinnweben sammeln, bis der Mann vom Auktionshaus da war und all die guten Sachen mitgenommen hat und die Entrümpelungsfirma kommt, um den Rest zu erledigen. Relikte unserer seltsamen Weihnachtsferien im Schwebezustand. Aber ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass Fetzen unseres Lebens hier zurückbleiben wie Merediths Apfelbutzen im Abfalleimer im Salon. Weggeworfen und abstoßend.
Geschäftigkeit ist gut. Sie verhindert, dass meine Gedanken mich überwältigen. Nur drei Dinge werde ich behalten: Carolines Schreibmappe und die Briefe darin, das Porträt aus New York und Flags Beißring. Alles andere kann weg. Ich nehme die Kugeln und den Christbaumschmuck ab, räume die letzten Reste von Weihnachten aus Kühlschrank und Speisekammer und verstreue alles auf dem Rasen, was die Vögel oder Füchse appetitlich finden könnten. Ich krame eine Kneifzange aus einer Besteckschublade, steige die Treppe hinauf bis zu der Stelle, wo der Christbaum am Geländer befestigt ist, und schneide die Drähte durch. »Baum fällt!«, rufe ich in die leere Eingangshalle hinab. Der Baum sackt langsam zur Seite und klatscht dann auf den Boden wie ein müder alter Hund. Ein zartes Knirschen sagt mir, dass ich doch nicht alle Kugeln gefunden habe. Trockene Nadeln rieseln von den Zweigen und bedecken den Steinboden. Seufzend hole ich Kehrbesen und Schaufel und mache mich dar an, die Nadeln über den Boden zu scheuchen. Ich kann nicht anders, als mir ein Leben mit Dinny auszumalen, mir vorzustellen, dass ich bei ihm bleiben könnte. Auf dem schmalen Bett in seinem umgebauten Krankenwagen schlafen; Frühstück auf dem winzigen Ofen zubereiten; vielleicht in jedem neuen Ort eine neue Arbeit finden. Kurzzeitverträge, Vertretungen. Nachhilfe. Als würde irgendjemand eine Aushilfslehrerin ohne festen Wohnsitz beschäftigen. Jede Nacht dicht aneinandergekuschelt daliegen, seinen Herzschlag hören, von seiner Berührung geweckt werden.
Es klopft an der Tür, und Dinnys Stimme reißt mich aus meinem Tagtraum.
»Komme ich ungelegen?« Er steckt den Kopf durch den Spalt der Haustür.
»Nein, du kommst sogar genau richtig. Du kannst mir helfen, diesen Baum nach draußen zu schaffen.« Ich richte mich auf und verziehe
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