Das Geheime Vermächtnis
halb geschlossen und trocknen schon aus. Auf ihrem Fell zeichnen sich dunkle, verklebte Flecken ab.
»Was machst du mit den Eichhörnchen?«, frage ich.
»Abendessen«, antwortet Dinny gelassen. Er blickt sich um, sieht das Entsetzen über mein Gesicht huschen und lächelt ein wenig spöttisch. »Eichhörnchen hat es wohl noch nicht auf die Speisekarten der schicken Londoner Restaurants geschafft?«
»Wer weiß? Allerdings nicht da, wo ich esse. Woher weißt du, dass ich in London wohne?« Er dreht sich wieder um und lässt den Blick über meine schicken Stiefel, die dunkle Jeans und den weichen, dicken Wollmantel schweifen. Dann mustert er die präzise Kante meines Ponys.
»Nur geraten«, murmelt er.
»Magst du London nicht?«, frage ich.
»Ich war erst einmal dort«, sagt Dinny über die Schulter hinweg. »Aber im Allgemeinen, nein. Ich mag keine Städte. Mir ist es lieber, der Horizont ist mehr als zehn Meter von mir weg.«
»Na ja, ich habe gern viel zum Anschauen.« Dinny verlangsamt seine Schritte und geht jetzt neben mir her. Sein Schweigen ist beinahe gesellig. Ich suche nach einer Möglichkeit, es zu füllen. Er ist nicht viel größer als ich, etwa so groß wie Beth. Ich kann jetzt sehen, womit er das Haar zurückgebunden hat – ein Stück dunkelrote Lederschnur, fest verknotet. Am Saum seiner Jeans klebt Matsch, er trägt ein T -Shirt und einen weiten Baumwollpulli. Ich sehe den Wind über seinen bloßen Nacken streichen und fröstele, obwohl ich warm in viele Schichten eingepackt bin und er die Kälte nicht zu spüren scheint. Wir gehen einen kleinen Abhang hinauf, und meine Schritte sind bei Weitem die lautesten. Die Füße der beiden Männer finden anscheinend nicht so viel zu stolpern wie meine.
»Da drüben«, sagt Dinny und deutet mit der Hand vo-raus. Ich folge seinem Zeigefinger und sehe einen dunklen Ilex, alt und knorrig. Harry hat schon einen herabgefallenen Zweig aufgehoben, drückt sich den spitzen Blattrand an die Daumenkuppe, verzieht das Gesicht, schüttelt die Hand und wiederholt das Ganze.
Ich schneide ein paar Zweige ab – die mit den spitzesten Blättern und den dicksten Beeren. Ein Zweig schnellt mir aus der Hand und schlägt mir ins Gesicht. Unter meinem Auge brennt ein dünner Kratzer. Dinny beobachtet mich wieder mit undurchdringlicher Miene.
»Wie geht es deiner Mutter? Ist sie auch hier?«, frage ich. Ich will ihn sprechen hören, will alles erfahren, was er gemacht hat, seit ich ihn zuletzt gesehen habe. Ich will, dass er wieder wirklich ist und immer noch ein guter Freund. Aber jetzt erinnere ich mich – an sein langes Schweigen. Früher hat mich das nie nervös gemacht. Kinder stören sich nicht an etwas so Harmlosem wie Schweigen und sind in dieser Hinsicht ungewöhnlich geduldig.
»Es geht ihr gut, danke. Sie fährt nicht mehr mit uns. Als Dad gestorben ist, hat sie das Reisen aufgegeben – hat gesagt, dass sie allmählich zu alt dafür sei. Ich glaube, sie hatte die Straße einfach satt. Das hätte sie Dad natürlich nie gesagt. Aber nach seinem Tod ist sie ausgestiegen. Sie ist jetzt mit einem Klempner namens Keith verheiratet. Sie wohnen in West Hatch, praktisch gegenüber.«
»Aha. Grüß sie schön von mir, wenn du sie siehst.« Er runzelt leicht die Stirn, und ich frage mich, ob ich etwas Falsches gesagt habe. Er hat eines von diesen Gesichtern, die so grimmig wirken können, die beim kleinsten Stirnrunzeln finster werden. Mit zwölf ließ ihn das weise erscheinen, ernsthaft. Damals kam ich mir dann immer oberflächlich und albern vor, und genauso geht es mir jetzt.
Mit meinem flachen Korb voll Stechpalmenzweigen gehen wir durch den Wald zurück zu der Lichtung, auf der sie früher immer gelagert haben. Die breite Wiese liegt am westlichen Rand des Wäldchens, an drei Seiten von schützenden Bäumen umgeben, mit offenen Wiesen und Feldern im Westen und einem holprigen, halb überwucherten Feldweg, der zur Straße führt. Der Boden hier ist nicht trockengelegt. Er schmatzt unter unseren Füßen, als wir uns der Wiese nähern. Im Sommer ist sie so herrlich grün von langen Gräsern mit seidigen Stängeln, die den hart gebackenen Boden darunter schützen. Harry schlendert hinter uns her, und seine Aufmerksamkeit flattert von einem Ding zum nächsten.
»Und du? Wohnst du jetzt hier?«, fragt Dinny schließlich.
»O nein. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber vorerst schon, jedenfalls über Weihnachten. Wir haben das Haus geerbt, Beth und ich …«
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