Das Geheime Vermächtnis
Rauchwolken auf. Ich frage mich, was er während des restlichen Jahres macht. Dunkelheit und Schneeregen beziehen uns ein, machen uns zu einem Teil der vermummten Menschenmenge. Wir wickeln uns die Schals um die Ohren und genießen bei einem Schaufensterbummel die warme, goldene Beleuchtung. Die Welt hat uns beide wieder, nach der Abgeschiedenheit im Herrenhaus. Das fühlt sich gut an, aufregend, und ich vermisse London. In jedem Laden summt Beth die Weihnachtslieder aus den Lautsprechern mit, und ich hake mich bei ihr unter und drücke sie fest an mich.
Ein paar Stunden später ist Beth in einem wahren Weih nachtsrausch. Wir haben acht verschiedene Sorten Käse, einen riesigen Schinken, gewürzte Würstchen, Cracker, Knallbonbons, einen Truthahn, den ich nur mit Mühe zum Auto tragen kann, und einen absurd teuren Kuchen. Wir stopfen alles in den Kofferraum und ziehen wieder los, um glänzende Christbaumkugeln, Perlenschnüre, Glitzerspray, gläserne Eiszapfen und kleine Strohengel in weißen Musse linkleidchen zu kaufen. Ein Bauernhof nur zwei Automi nu ten vom Haus entfernt verkauft Weihnachtsbäume. Wir fahren auf dem Rückweg dort vorbei und kaufen einen vier Meter hohen Baum, der am dreiundzwanzigsten Dezember geliefert und aufgestellt werden soll.
»Der kommt in den Hausflur – sie können ihn am Treppengeländer festmachen«, erklärt Beth entschieden.
Vielleicht sollte ich sie nicht so viel Geld ausgeben lassen, wenn es ihr nicht gut geht, so wie jetzt. Ich traue mich gar nicht, die Quittungen anzuschauen und alles zusammenzuzählen. Aber Beth hat Geld – Geld von Maxwell und das, was sie mit ihren Übersetzungen verdient. Ganz sicher mehr Geld als ich, aber darüber sprechen wir nie. Sie lebt die meiste Zeit sehr bescheiden. Sie spart lieber, außer, Eddie braucht etwas. Mein ganzes Geld geht für London drauf, für den Weg zur Arbeit, die Miete, das Leben. Jetzt haben wir genug Essen für zehn Personen, obwohl wir nur zu fünft sein werden; aber Beth sieht fröhlicher aus, ihre Gesichtszüge sind nicht mehr so abgespannt. Die Shopping-Therapie. Aber es geht ihr nicht ums Kaufen – sie liebt es einfach, geben zu können. Sie drapiert mit konzentriert gerunzelten Brauen Girlanden auf dem Kaminsims, und ich lasse sie allein, um Wasser aufzusetzen. Ich bin zufrieden und schläfrig.
Ich habe eine Nachricht von meiner Agentur auf dem Handy wegen irgendeiner Vertretung an einer Schule in Ealing ab dem zwölften Januar. Mein Daumen schwebt schon über der Rückruf-Taste, doch seltsamerweise widerstrebt es mir, sie zu drücken und mich vom richtigen Leben stören zu lassen. Aber Geld will nun mal verdient sein; das Leben muss weitergehen. Es gilt Literatur zwischen taube Ohren zu stopfen. Aber vielleicht doch nicht. Nicht, wenn ich hierherziehe, natürlich. Keine Miete mehr. Nur die Unterhaltskosten für das Haus, die vermutlich höher sind als meine derzeitige Miete. Wäre es das wert, für fünf Jahre, oder sogar zehn? Sollten wir versuchen, hier zu leben – nur so lange, bis die Bedingung der Erbschaft erfüllt ist? Dann könnten wir das Anwesen verkaufen und uns mit vierzig zur Ruhe setzen, sobald die Immobilienpreise wieder steigen. Aber was, wenn es Beth krank macht, hier zu wohnen? Und ich? Werde ich hier immer dieses Gefühl haben, dass sich etwas von hinten an mich heranschleicht? Ich wünschte, ich könnte mich umdrehen und es ansehen, es klar erkennen. Ich erinnere mich an alles in jenem Sommer, außer daran, was mit Henry geschah.
Wir waren nach jenem Jahr auch den nächsten und übernächsten Sommer über hier, und unsere Mutter ließ uns kaum aus den Augen. Nicht, um uns zu schützen, oder etwa aus Angst, uns könnte etwas geschehen, sondern um uns zu beobachten, unsere Reaktion einzuschätzen. Ich weiß nicht, ob ich anders war als vorher. Ein bisschen stiller vielleicht. Und wir blieben im Garten, wir wollten uns nicht mehr weiter hinauswagen. Mum hielt uns von Meredith fern, die inzwischen unberechenbar war und Wutanfälle bekam, mit Geschimpfe und Schuldzuweisungen. Doch Beth zog sich immer weiter in sich zurück. Unsere Mutter sah es und sagte es unserem Vater, und der runzelte die Stirn. Danach kamen wir nicht mehr hierher.
Draußen versinkt die Sonne in Orange und kühlem Rosa hinter dem Horizont. Ich besprühe die Stechpalmenzweige, vergolde die dunklen Blätter. Es sieht himmlisch aus. Von den Dämpfen werde ich schwindlig und gleichzeitig ganz euphorisch. Ich hänge die Zweige ans
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