Das Geheime Vermächtnis
leid, kennen wir uns?«
»Erkennst du mich denn nicht?«, fragt er. Ich sehe ihn mir an – eine dunkle Mähne, im Nacken zum Pferdeschwanz gebunden, kräftige Brauen, der Mund ein entschlossener Strich. Schwarze Augen, die glänzen. Und dann kippt die Welt, sie verrutscht ein Stück, einzelne Züge fügen sich zusammen, und etwas erstaunlich Vertrautes entsteht daraus.
» Dinny? Bist du das?«, keuche ich, weil meine Rippen sich plötzlich zusammenziehen.
»Dinny hat mich schon lange niemand mehr genannt. Heute sagt man Nathan zu mir.« Sein Lächeln ist ein wenig unsicher: Erfreut und ebenso neugierig wie ich, einer Figur aus der Vergangenheit zu begegnen, aber zurückhaltend, beinahe etwas reserviert. Doch er wendet den Blick nicht von meinem Gesicht ab. Seine Augen verfolgen jede meiner Bewegungen wie Scheinwerfer.
»Ich kann gar nicht glauben, dass du es wirklich bist! Wie … wie geht es dir? Was, zum Teufel, machst du hier?« Ich bin bass erstaunt. Irgendwie bin ich nie auf den Gedan ken gekommen, dass auch Dinny erwachsen geworden sein muss, dass er ein anderes Leben gelebt hat, dass er je nach Barrow Storton zurückkommen könnte. »Du siehst so anders aus!« Meine Wangen brennen, als wäre ich bei etwas ertappt worden. Ich kann meinen Puls bis in die Fingerspitzen spüren.
»Aber du siehst noch genauso aus wie früher, Erica. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Lady Calcott gestorben ist. Da musste ich an … diesen Ort hier denken. Wir waren nicht mehr da, seit mein Dad gestorben ist. Aber auf einmal wollte ich wieder herkommen …«
»Oh, das tut mir sehr leid. Das mit deinem Dad.« Dinnys Vater hieß Mickey. Beth und ich liebten ihn. Er hatte ein breites Grinsen, kräftige Hände, und er schenkte uns immer einen Penny oder eine Süßigkeit – die er hinter unserem Ohr hervorzauberte. Mum ist ihm ein- oder zweimal begegnet. Sie wollte sich, sehr höflich natürlich, diese Leute ansehen, mit denen wir so viel Zeit verbrachten. Und Dinnys Mum Maureen nannten alle Mo. Mickey und Mo. Wenn wir fürch teten, Meredith könnte uns hören, benutzten wir einen Code namen – wir sprachen davon, Mickey Mouse zu besuchen.
»Er ist vor acht Jahren gestorben. Es ging sehr schnell, und er hat es nicht kommen sehen. Ich glaube, das ist die beste Art zu sterben«, sagt Dinny ruhig.
»Ja, das glaube ich auch.«
»Was hat Lady Calcott schließlich erwischt?« Mir fällt sein leicht bitterer Ton auf und dass er mir nicht sein Beileid ausspricht.
»Ein Schlaganfall. Sie war neunundneunzig und sicher sehr enttäuscht.«
»Wie meinst du das?«
»Es gab eine ganze Reihe von über Hundertjährigen unter den Calcott-Frauen. Meine Urgroßmutter wurde hundertzwei. Meredith war immer wild entschlossen, die Königin zu überleben. Meine Familie vererbt gute Gene«, sage ich und bereue es sofort – jegliche Erwähnung von Abstammung, Blutlinien, Herkunft.
Es entsteht eine vibrierende Stille. Ich habe ihm so viel zu sagen, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Er bricht den intensiven Blickkontakt ab, schaut zwischen den Bäumen hindurch zum Haus, und ein Schatten fällt über sein Gesicht.
»Hör mal, es tut mir leid, dass ich geschimpft habe. Dass ich … Harry angeschrien habe. Er hat mich erschreckt, das ist alles«, sage ich leise.
»Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben, er ist völlig harmlos«, versichert Dinny mir. Wir beide schauen auf die bunt gekleidete Gestalt hinab, die im Laub hockt. Dinny steht so dicht vor mir, dass ich ihn berühren könnte. Dinny, wirklich und wahrhaftig wieder hier, nachdem er vor ein paar Minuten noch fast ein Mythos war. Ich kann es kaum glauben.
»Ist er … stimmt etwas nicht mit ihm?«, frage ich.
»Er ist sanft und freundlich und redet nicht gern. Wenn das bedeutet, dass mit ihm etwas nicht stimmt, dann ja.«
»Oh, so habe ich das nicht gemeint. Nichts Schlimmes.« Meine Stimme ist zu schrill. Ich hole tief Luft und lasse sie wieder ausströmen.
»Und du hast wonach gesucht … Ilex?«
»Ja – oder Misteln. Oder einem schönen Efeu mit Beeren. Um das Haus zu schmücken.« Ich lächle.
»Komm mit, Harry. Zeigen wir Erica die große Stechpalme«, sagt Dinny. Er zieht Harry hoch und stupst ihn sanft vorwärts.
»Danke«, sage ich noch einmal. Mein Atem geht immer noch zu schnell. Dinny dreht sich um und läuft voran, und ich sehe zwei graue Eichhörnchen, an den Schwänzen mit Schnur zusammengebunden, die über seine Schulter hängen. Ihre schwarzen Augen sind
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