Das Geheime Vermächtnis
lässt den Blick über die Lichtung schweifen.
»So bald! Ihr seid bestimmt schon ganz nervös. Hat sie schon ihre Tasche gepackt und so weiter? Fürs Krankenhaus?«
Dinny schüttelt den Kopf. »Kein Krankenhaus. Sie will das Baby hier bekommen, sagt sie.« Dinny verstummt, richtet sich auf und wendet sich mir zu. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Verstehst du was von Babys?« Er klingt besorgt.
»Ich? Nein, nicht direkt. Ich habe noch … Aber die Regierung erzählt einem ja heutzutage ständig von den Vorteilen der Hausgeburt. Offenbar das Recht jeder Frau. Habt ihr schon eine Hebamme?«
»Keine Hebamme, keine Hausgeburt – sie will es hier draußen bekommen, im Wald.«
»Im Wald ? Aber … es ist Dezember! Ist sie verrückt?«
»Ich weiß, dass Dezember ist, Erica. Aber sie hat das Recht, das zu entscheiden, wie du gerade gesagt hast«, entgegnet er tonlos. Ein Anflug von Verzweiflung liegt in seiner Stimme, unter der ruhigen Oberfläche. »Sie nimmt das mit der natürlichen Geburt so wörtlich, wie es nur geht.«
»Tja, du hast bei dieser Entscheidung aber auch etwas zu sagen. Der Vater hat auch Rechte. Beim ersten Kind kann die Geburt ziemlich lange dauern, weißt du? Beth hat bei Eddie sechsunddreißig Stunden in den Wehen gelegen …«
»Beth hat ein Baby?«
»Hatte. Er ist jetzt elf. Er kommt über Weihnachten her, also wirst du ihn sicher kennenlernen. Eddie – er ist ein wunderbarer Junge.«
»Sie ist also verheiratet?«
»War sie. Jetzt nicht mehr«, erwidere ich knapp. Er hat Fragen über Beth, aber keine über mich.
Es regnet jetzt heftiger. Ich ziehe die Schultern hoch und schiebe die Hände tiefer in die Taschen, doch Dinny scheint es gar nicht zu bemerken. Ich überlege, ob ich ihm anbieten soll, einmal mit Honey zu reden, aber dann denke ich an ihre harten Augen und hoffe, dass Dinny mich nicht darum bitten wird. Also entschließe ich mich zu einem Kompromiss.
»Naja, falls Honey mit jemandem darüber reden möchte, könnte sie vielleicht mit Beth sprechen? Ihre Erfahrungen wären sicher hilfreich.«
»Sie will mit niemandem darüber reden. Sie ist … eigensinnig«, sagt Dinny seufzend.
»Ist mir auch aufgefallen«, murmele ich. Noch mehr Schweigen halte ich nicht aus. Ich will ihn nach Weihnachten fragen. Nach Namen für das Baby. Ich will nach seinen Reisen fragen, nach seinem Leben, unserer Vergangenheit. »Tja, ich gehe dann lieber. Raus aus diesem Regen«, ist alles, was ich herausbringe. »Es hat mich wirklich sehr gefreut, dich wiederzusehen, Dinny. Schön, dass ihr wieder hier seid. Und es hat mich gefreut, Honey kennenzulernen. Ich … also, wir sind drüben im Haus, falls ihr etwas braucht …«
»Freut mich auch, Erica.« Dinny sieht mich mit zur Seite geneigtem Kopf an, aber sein Blick ist bekümmert, nicht erfreut.
»Okay. Also dann, bis bald.« Ich gehe so lässig ich kann.
Ich erzähle Beth nichts von Dinny, als ich sie im Arbeitszimmer vor dem Fernseher finde. Ich weiß auch nicht genau, warum. Es wird eine Reaktion geben, glaube ich, wenn ich es ihr sage. Und ich bin nicht sicher, wie die ausfallen wird. Plötzlich bin ich ganz aufgewühlt. Ich habe das Gefühl, dass wir hier nicht mehr allein sind. Ich kann Dinnys Gegenwart spüren, da draußen hinter den Bäumen. Wie ein nagendes Etwas, das ich aus den Augenwinkeln sehe. Die dritte Spitze unseres Dreiecks. Ich schalte den Fernseher aus und ziehe die Vorhänge auf.
»Komm mit. Wir gehen aus«, sage ich zu Beth.
»Ich will nicht ausgehen. Wo willst du hin?«
»Einkaufen. Ich kann keine Dosensuppe mehr sehen. Außerdem ist bald Weihnachten. Mum und Dad kommen zum Mittagessen, und was willst du Eddie an Weihnachten vorsetzen? Merediths alte Käsecracker?«
»Lieber Himmel, da hast du recht. Du hast recht!«
»Ich weiß.«
»Wir brauchen eine Menge Sachen … Truthahn, Würstchen, Kartoffeln, alles für den Yorkshire-Pudding …« Sie zählt die Zutaten an den Fingern ab. Es sind noch zehn Tage bis Weihnachten – wir haben reichlich Zeit. Aber das sage ich nicht. Ich mache das Beste aus ihrem plötzlichen Tatendrang und zeige zur Tür. »Und Weihnachtsschmuck!«, ruft sie aus.
»Na los. Du kannst im Auto eine Liste schreiben.«
Devizes hat sich für Weihnachten herausgeputzt. Kleine Tannen, geschmückt mit weißen Lichterketten, ragen vor den Fassaden von Läden und Hotels an der High Street auf. Eine Blaskapelle spielt, und aus dem Wagen eines Mannes, der Kastanien röstet, steigen beißende
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