Das Geheime Vermächtnis
Treppengeländer und schmücke die Fensterbretter damit, als Beth herunterkommt, mit verschränkten Armen und vom Schlaf zerdrücktem Gesicht. Sie geht von einem aufgehängten Zweig zum nächsten, berührt sie leicht und prüft die Farbe mit den Fingerspitzen.
»Ist es gut so?«, frage ich sie lächelnd. Ich habe im Radio den Klassiksender eingestellt. Sie spielen gerade »Good King Wenceslas«. Beth nickt und gähnt. Ich schmettere eine Strophe mit, aber ich habe einfach keine Singstimme.
»Du bist ja munter«, bemerkt Beth. Sie tritt an das Fensterbrett, das ich gerade mit Zweiglein dekoriere, streicht mir das Haar hinters Ohr und berührt den Kratzer unter meinem Auge. Sehr selten, eine Berührung von ihr. Ich lächle.
»Also …«, sage ich. Die Worte taumeln mir in den Mund. Ich bin so sehr versucht, sie auszusprechen, aber immer noch unsicher, ob das richtig ist oder falsch.
»Also was?«
»Also, Dinny ist hier.«
Liebe
1902
Die Reise von New York nach Woodward im Oklahoma-Territorium war weit, eine Strecke von über zweitausend Meilen. Ein Staat nach dem anderen rollte unter dem Zug dahin, immer westwärts. Anfangs betrachtete Caroline ehrfurchtsvoll die Szenerie hinter dem Fenster. Nachdem sie die vertrauten Orte des New York State hinter sich gelassen hatten, wurden die Abstände zwischen den Siedlungen immer größer. Die Ortschaften selbst wurden immer kleiner, als würden sie von dem gewaltigen, weiten Land um sie herum zusammengedrückt. Sie fuhren durch Wälder, so groß und finster, dass sie in ein anderes Zeitalter zu gehören schienen und sich endlose Meilen lang dicht an den Zug drängten. Sie rollten zwischen Weizen- und Maisfeldern hindurch, die ebenso riesig, ebenso erstaunlich waren. An einer Station standen neben den Schienen grob gezimmerte Behausungen, und Kinder spielten dort, rannten neben dem Zug her, winkten und bettelten um Pennies. Erschrocken stellte Caroline fest, dass sie barfuß waren. Sie winkte ihnen zu, als der Zug wieder anfuhr, und drehte sich nach ihren wackeligen Häusern um, die zu Miniaturen dahinschrumpften, während zu beiden Seiten wieder das offene Land gähnte. Es war wahrhaftig ungezähmt, dieses Land im Westen, dachte sie. Menschen lebten darauf, doch sie hatten es noch nicht geformt – nicht so, wie sie New York City geformt hatten. Caroline setzte sich wieder auf ihren Platz und blickte ein wenig beunruhigt zu den fernen violetten Hügeln hinüber. Der zuvor so mächtige Zug kam ihr jetzt vor wie ein winziges Insekt, das über die endlos weite Oberfläche dieser Welt krabbelte.
Bis Caroline zum dritten und letzten Mal umgestiegen war, in Dodge City in Kansas, fühlte sie sich bleischwer vor Müdigkeit und unwohl in den zu lang getragenen Kleidern. Ihr Magen war leer und brannte, denn die Wegzehrung, die Sara ihr eingepackt hatte, war vor anderthalb Tagen ausgegangen. Sara konnte sich wohl keine so lange Reise vorstellen, dass ein halbes Dutzend gekochte Eier, ein Apfel und eine Schweinefleischpastete als Proviant nicht reichen könnten. Caroline stieg mit einigen anderen Passagieren aus, um im El Vacquero zu Mittag zu essen, einem Haus der Harvey Company an der Bahnlinie in Dodge City. Das Hotel war ein nagelneues Backsteingebäude, und Caroline betrachtete es als Beweis für den neuen Wohlstand und die Stabilität einer Gegend, die vor Kurzem noch Grenzland gewesen war. Sie blickte sich diskret um, zu neugierig, um der Versuchung ganz widerstehen zu können.
Die unbefestigte Straße draußen wimmelte vor Menschen und Ponys und Kutschen und Karren, deren gedämpfter Lärm ganz anders klang als der auf New Yorker Straßen. Gesattelte Pferde waren an Stangen am Straßenrand angebunden und ruhten sich mit einem angewinkelten Huf aus. Der Gestank von Gülle trieb von den nahen Pferchen her über die Stadt und ergab zusammen mit den Essensgerü chen und den Ausdünstungen der erhitzten Leiber von Men schen und Tieren eine eigenartige Mischung. Carolines verwirrter Magen wusste nicht, ob er vor Hunger knurren oder vor Übelkeit flau werden sollte. Männer schlenderten mit Pistolen an den Gürteln vorüber, die Hemden am Kragen offen, und Caroline starrte sie staunend an, als wären sie einer Legende entstiegen. Ihr Herz klopfte vor nervöser Er regung, und ihre Kehle war trocken. Einen Augenblick lang wünschte sie beinahe, sie hätte die unerschütterliche Bathilda an ihrer Seite; sie vermisste deren respektable Präsenz, hinter der sie sich verstecken
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