Das Geheime Vermächtnis
geraten wäre, und sie fühlte sich noch den ganzen Abend lang wie seekrank, als schwankte der Boden unter ihren Füßen. Danach, hat sie mir erzählt, wusste sie nicht mehr, was real war, was sicher war. Sie glaubt, da hätte es angefangen. Aber ich erinnere mich an sie an dem Abend, als Henry verschwand. An ihr Schweigen und die ungegessenen Bohnen auf ihrem Teller.
»Ich fände es schrecklich, wenn sie so lange krank gewesen wäre wegen dem, was damals passiert ist«, sagt Dinny leise. Er weiß, was passiert ist. Er weiß es.
»Ach?«, sage ich. Wenn er nur weitersprechen, mir mehr sagen würde. Sag es mir. Doch das tut er nicht.
»Es war nicht … na ja. Es tut mir leid, zu hören, dass sie unglücklich ist.«
»Ich dachte, wieder hierherzukommen könnte ihr helfen, aber jetzt mache ich mir Sorgen, dass es davon noch schlimmer wird. Du weißt schon, dass alles zurückkehrt. Es könnte so oder so auf sie wirken, glaube ich. Aber es ist gut, dass Eddie da ist. Er lenkt sie ab. Ohne ihn hätte sie womöglich sogar Weihnachten vergessen.«
»Glaubst du, Beth wird heute Abend zu unserer Party kommen?«
»Um ehrlich zu sein, nein. Aber ich frage sie, wenn du möchtest?«
Dinny nickt, aber er macht ein enttäuschtes Gesicht. »Frag sie. Und bring Eddie mit. Er und Harry verstehen sich offenbar. Harry kann sehr gut mit Kindern – sie sind für ihn weniger kompliziert.«
»Wenn du sie fragst, kommt sie bestimmt. Wenn du mitkommst und sie einlädst, meine ich.« Dinny wirft mir ein schiefes Grinsen zu.
»Dieses Haus und ich, wir vertragen uns nicht. Frag du sie, und vielleicht sehe ich euch beide dann nachher.« Ich nicke und schiebe die Hände in die hinteren Taschen meiner Jeans.
»Kommst du, Ed? Ich gehe zurück zum Haus.« Eddie und Harry blicken von ihrer Arbeit auf. Zwei Paar hellblaue Augen.
»Kann ich noch bleiben und das hier fertig machen, Rick?« Ich werfe Dinny einen Blick zu. Er zuckt wieder mit den Schultern und nickt.
»Ich behalte ihn im Auge«, sagt er.
Einmal haben wir Dinny ins Haus geschmuggelt, als Meredith nach Devizes zum Zahnarzt gefahren war. Henry war bei einem Jungen im Dorf, mit dem er sich angefreundet hatte. Einem Jungen, zu dessen Haus ein richtiger Swimmingpool gehörte.
» Komm schon«, zischte ich Dinny zu. »Sei doch nicht so ein Feigling!« Ich wollte ihm unbedingt die großen Zimmer zeigen, die riesige Treppe, die gewaltigen Keller – nicht um ihn zu beeindrucken oder anzugeben. Ich wollte nur sehen, wie sich seine Augen weiteten. Ich wollte zur Abwechslung einmal ihm etwas zeigen, die Anführerin sein. Beth kauerte als Letzte hinter uns beiden und lächelte angespannt. Es war niemand da außer der Haushälterin, die nie sonderlich auf uns achtete – aber wir duckten uns trotzdem, ehe wir hineinhuschten. Hinter dem letzten schützenden Busch war ich Dinny nah genug, um sein Knie an meiner Hüfte zu spüren und den trockenen, holzigen Duft seiner Haut zu riechen.
Dinny wollte nicht. Sein Großvater Flag und auch seine Eltern hatten es ihm oft genug verboten, ihm genug Geschichten erzählt. Er hatte sogar schon flüchtige Begegnungen mit Meredith erlebt. Er wusste, dass er hier nicht willkommen war, aber er war neugierig, das sah ich ihm an. So geht es allen Kindern, wenn man ihnen einen Ort verbietet. Ich hatte ihn noch nie so unsicher erlebt, hatte noch nie gesehen, wie er zögerte und dann entschied, doch weiterzumachen. Wir gingen von einem Zimmer ins nächste, und ich gab einen laufenden Kommentar ab: »Das ist das Musikzimmer, aber hier spielt niemand Musik, jedenfalls soweit ich weiß. Da geht es in den Keller. Komm, den musst du sehen! Der ist so groß wie ein ganzes Haus! Das ist Beths Zimmer. Sie hat das größere, weil sie älter ist, aber von meinem Zimmer aus kann man direkt in die Bäume schauen, da habe ich sogar mal eine Eule gesehen.« Ich redete und redete. Die Labradore folgten uns, grinsten und wedelten aufgeregt mit dem Schwanz.
Aber je weiter wir liefen, je mehr wir ihm zeigten, durch je mehr Räume wir ihn schleiften, desto stiller wurde Dinny. Seine Worte versiegten, die weit aufgerissenen Augen verloren den gespannten Ausdruck. Schließlich fiel das sogar mir auf.
»Gefällt es dir nicht?«
Er hob unschlüssig die Schultern und zog kurz die Augenbrauen hoch. Und dann hörten wir ein Auto in der Auffahrt. Panik, hämmernde Herzen. Wir lauschten angestrengt: Kamen sie vorne rein oder hinten? Wir mussten ein Risiko eingehen, und ich traf die
Weitere Kostenlose Bücher