Das Geheime Vermächtnis
jedem Blatt und genieße den verbotenen Reiz des Schnüffelns. Da sind auch ein paar Fotos, die ich zur Seite lege. Und dann finde ich die Zeitungsausschnitte. Über Henry natürlich. Die Lokalzeitungen berichteten zuerst darüber. Lady Calcotts Enkelsohn vermisst. Suche nach vermisstem Jungen ausgedehnt. Kleidungsstücke im Wald von Westridge gehörten nicht vermisstem Jungen. Dann kamen die großen Tageszeitungen dazu. Angst vor Entführungen, Spekulationen, ein mysteriöser Landstreicher, der an der A361 mit einem Bündel beobachtet worden war, das ein Kind hätte sein können. Ein Junge, auf den die Beschreibung passte, war in Devizes in einem Auto liegend gesehen worden. Polizei äußerst besorgt. Ich kann mich nicht davon losreißen. Als hätte ein Landstreicher Henry irgendwohin tragen können. Den kräftigen Henry mit den starken Knochen. Wir haben nie einen dieser Berichte gesehen, Beth und ich. Natürlich nicht. Wenn man acht Jahre alt ist, liest man keine Zeitung, und die Nachrichten im Fernsehen durften wir grundsätzlich nicht schauen, und zu dem Zeitpunkt natürlich erst recht nicht.
Es sieht so aus, als hätte Meredith mehrere Zeitungen gekauft, und jeden Tag andere. Hat sie diese Berichte damals gleich ausgeschnitten oder erst später, vielleicht Jahre danach, um die Hoffnung lebendig zu erhalten, um ihn lebendig zu erhalten? Ich hatte keine Ahnung, dass das so eine große Story war. Bis gerade eben habe ich die Reporter, die sich vor dem Tor drängten, nicht mit einer Art nationaler Bekanntheit in Zusammenhang gebracht. Jetzt ist mir natürlich klar, warum sie da waren, warum die Story immer weiter verfolgt wurde, obwohl die Berichte im Lauf der Monate immer kürzer wurden, bis sie schließlich ganz versickerten. Kinder sollten nicht einfach spurlos verschwinden. Das ist die schlimmste Angst, vielleicht sogar schlimmer, als den Leichnam zu finden. Keine Antworten zu haben, nicht einmal eine Ahnung. Die arme Meredith. Sie war immerhin seine Großmutter. Es war hier passiert, wo sie auf ihn hatte aufpassen sollen.
Ich starre konzentriert auf ein körniges, vergrößertes Foto von Henry. Ein Schulfoto, auf dem er adrett und ordentlich mit Jackett und gestreifter Schulkrawatte abgebildet ist. Gekämmtes Haar, geziemendes Lächeln, das reichlich Zähne zeigt. Das Foto auf Postern in Schaufenstern, an Telefonmasten, in Zeitungen, Wartezimmern, Supermärkten, Tankstellen und Pubs. Noch kein Internet damals, aber ich kann mich erinnern, dass ich dieses Foto überall im Dorf gesehen habe. Im Schaufenster des Dorfladens hing es in Farbe. Es bleichte in der Sonne rasch aus, aber als ich es zum ersten Mal sah, war es bunt. Darf ich zum Laden gehen? Nein! Du bleibst im Haus! Ich konnte nicht verstehen, warum. Mum ging schließlich mit mir nach draußen, hielt mich an der Hand und bat die Reporter höflich, uns durchzulassen und uns nicht zu folgen. Ein paar taten es trotzdem und machten überflüssige Bilder von uns, als wir mit Orangeneis am Stiel aus dem Laden kamen. Hier ist ein winziger Zeitungsausschnitt vom August 1987. Ein ganzes Jahr danach. Mit Bedauern verkündet die letzte Zeile: Trotz intensiver polizeilicher Ermittlungen wurde bisher keine Spur von dem vermissten Jungen gefunden.
Ich spüre einen dumpfen Schmerz zwischen den Rippen und merke, dass ich den Atem angehalten habe – als erwartete ich etwas, als hätte die Geschichte irgendein anderes Ende nehmen können. Mir fällt auf, dass es jetzt stärker regnet, lauter. Eddie ist draußen im Wald. Er wird klatschnass werden. Es kommt mir so unwirklich vor, etwas über Henry in Zeitungen zu lesen, über diesen Sommer zu lesen. Doch zugleich wird es dadurch umso wirklicher. Umso schrecklicher. Es ist tatsächlich passiert, und ich war hier. Ich lege die Ausschnitte wieder in die Schachtel und passe auf, dass ich sie nicht knicke. Die werde ich behalten, glaube ich, in derselben Schachtel, so sargähnlich, in die Meredith sie vor dreiundzwanzig Jahren gelegt hat.
Ich greife nach dem Stapel Fotos und sehe sie durch, um den Schatten der Zeitungsausschnitte abzuschütteln. Die meisten sind Familienfotos und Urlaubsschnappschüsse – genau das, was Mum haben wollte. Da ist ein kleines Schwarz-Weiß-Foto von Meredith und Charles an ihrem Hochzeitstag – Charles war mein Großvater, der im Zweiten Weltkrieg ums Leben kam. Er war nicht beim Militär, sondern fuhr eines Tages geschäftlich nach London, und eine V2-Rakete erwischte den Club, in dem er zu
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