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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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allmählich zu einer täglichen Pilgerfahrt. Heute ist ein kalter, brauner Tag, der nichts mehr von dem glitzernden Eis gestern hat. Ich bleibe stehen, gehe langsam an den Rand und schaue in die Tiefe. Der Teich ist unverändert. Er gibt mir keine Antworten. Ich frage mich, ob ich vielleicht einfach nicht aufgepasst habe, als was auch immer passiert ist. Manchmal schweift meine Aufmerksamkeit ab, bleibt an irgendeinem Hintergrundgedanken hängen, lässt sich fortlocken. Wenn meine Lehrerkollegen mit mir sprechen, passiert das manchmal auch. Ich denke nicht gern über unterdrückte Erinnerungen nach, Trauma oder Gedächtnisverlust. Geisteskrankheit.
    »Ich glaube, du bist ein bisschen besessen von diesem Teich, Rick«, erklärt Eddie ernst.
    »Bin ich nicht. Warum sagst du so etwas?«
    »Jedes Mal, wenn wir in die Nähe kommen, machst du einen auf Luna Lovegood. Du starrst so ins Leere.«
    »Jetzt halt aber mal die Luft an!«
    »Ich mache doch nur Spaß «, ruft er aus und rempelt mich verlegen mit der Schulter an. »Aber er sieht doch irgendwie immer gleich aus. Oder nicht?« Eddie wendet sich ab, geht ein paar Schritte weit, hockt sich hin, um einen Stein aufzuheben, und schleudert ihn ins Wasser. Die Oberfläche zerspringt. Ich beobachte ihn, und plötzlich habe ich ein scheußliches, wackeliges Gefühl in den Knien, als hätte ich eine Sprosse auf einer Leiter verfehlt.
    »Na, dann komm«, sage ich und wende mich hastig ab.
    »Ist hier irgendwas passiert?«, stößt Eddie hervor. Er klingt angespannt, besorgt.
    »Wie kommst du darauf, Eddie?«
    »Es ist nur … du kommst immer wieder hier raus. Dann kriegst du so einen Blick, wie Mum, wenn sie traurig ist.« Ich verfluche mich im Stillen. »Und Mum … ich habe das Gefühl, dass sie nicht gern hier ist.« Man vergisst so leicht, wie scharfsichtig Kinder oft sind.
    »Ja, hier ist etwas passiert, Eddie. Als wir noch klein waren, ist unser Cousin Henry verschwunden. Er war elf, genauso alt, wie du jetzt bist. Niemand hat je herausgefunden, was mit ihm passiert ist, deshalb haben wir das auch nie vergessen können.«
    »Oh.« Er tritt kleine Laubfontänen in die Luft. »Das ist aber traurig«, sagt er schließlich.
    »Ja. War es«, entgegne ich.
    »Vielleicht ist er einfach weggelaufen und … ich weiß auch nicht, hat sich einer Bande angeschlossen oder so?«
    »Ja, vielleicht«, sage ich hoffnungslos. Eddie nickt, offenbar zufrieden mit seiner Erklärung.
    Dinny steht mit einem Mann, den ich nicht kenne, im Lager, als die Hunde auf uns zu rasen und uns beschnüffeln. Ich winke fröhlich, als würde ich jeden Tag hier vorbeischauen, und Dinny erwidert das Winken etwas zögerlich. Der andere Mann sieht mich freundlich an. Er ist dünn, drahtig, nicht besonders groß. Er hat helles, sehr kurz geschnittenes Haar und eine Tätowierung – eine kleine blaue Blume – im Nacken. Eddie geht jetzt so dicht neben mir, dass er mich anrempelt. Nervös betreten wir den Kreis aus Fahrzeugen.
    »Hallo, tut mir leid, wenn ich störe«, sage ich. Ich bemühe mich um einen gelassenen Tonfall, doch in meinen eigenen Ohren klingt er irgendwie aufdringlich.
    »Hallo! Ich bin Patrick. Du musst unsere Nachbarin aus dem großen Haus oben sein?«, begrüßt mich der drahtige Mann. Sein Lächeln ist herzlich und aufrichtig, sein Händedruck lässt meine Schulter wackeln. Bei diesem Willkommen löst sich der Knoten in meinem Magen ein wenig.
    »Ja, genau. Ich bin Erica, und das ist mein Neffe Eddie.«
    »Ed!«, zischt Eddie mir durch die schiefen Zähne von der Seite zu.
    »Ed, freut mich, dich kennenzulernen.« Patrick rüttelt auch Eddies Schulter durch. Ich bemerke Harry, der hinter den beiden auf der Stufe vor einem Transporter sitzt. Ich überlege, ob ich ihm eine Begrüßung zurufen soll, lasse es aber sein. Er hat wieder irgendetwas in den Händen, das er mit ungeheurer Konzentration betrachtet. Sein Gesicht ist fast ganz hinter herabhängendem Haar und einem Backenbart verborgen.
    »Also, äh, das hört sich vielleicht komisch an, aber uns ist aufgefallen, dass du gestern Honeys Chips vergessen hast. Im Laden. Also haben wir ihr welche mitgebracht. Sofern sie heute Morgen nicht eher Appetit auf saure Gurken hat.« Ich wedle mit der riesigen Chipstüte. Patrick wirft Dinny einen Blick zu – nicht unfreundlich, aber leicht verwundert.
    »Ich weiß, wie genervt ich immer bin, wenn Mum beim Einkaufen meine Sachen vergisst«, rettet Eddie mich. Beim Klang seiner Stimme blickt Harry auf.

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