Das Geheime Vermächtnis
Sommerfest einmal verrücktgespielt hat – wann war das? Ich kann es nicht genau sagen. Nicht lange vor ihrem Tod. Erinnerst du dich daran? Das Fest mit dem Feuerwerk und all den Laternen in der Auffahrt bis zum Haus?«
»Du lieber Gott! Das hatte ich völlig vergessen … An das Feuerwerk kann ich mich natürlich erinnern, und an das gute Essen. Aber jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich auch daran, dass Meredith Caroline in ihrem Rollstuhl nach drinnen schieben musste, weil sie herumgeschrien hat, irgendetwas über Elstern … was war da los? Weißt du das noch?«, frage ich. Beth schüttelt den Kopf.
»Sie hat nicht von Elstern gesprochen«, sagt sie. Und während sie mir davon erzählt, schiebt sich die Szene vor mein geistiges Auge, als wäre sie immer da gewesen und hätte nur darauf gewartet, hervorgeholt zu werden.
Das Sommerfest auf Storton Manor war ein alljährliches Ereignis, das üblicherweise am ersten Samstag im Juli stattfand. Manchmal kamen wir rechtzeitig hierher, manchmal nicht, je nachdem, wann die Schulferien anfingen. Wir hofften immer, dass wir dabei sein konnten – es war das Einzige in Merediths Leben, woran wir teilhaben wollten, wegen der Lichter und der Leute, der Musik und der Kleider, die das Herrenhaus in eine andere Welt versetzten. In diesem einen Jahr verbrachte Beth Stunden damit, mir das Haar zu machen. Ich hatte geweint, weil mein gutes Kleid mir zu klein geworden war, was wir aber erst merkten, als ich es am späten Nachmittag anzog. Es war zu eng unter den Armen, und die gesmokte Passe zwickte. Aber ich hatte nichts anderes, also musste ich mich hineinzwängen, und um mich aufzuheitern, flocht Beth mir türkisfarbene Bänder ins Haar, fünfzehn oder zwanzig insgesamt, deren gesammelte Enden sich an meinem Hinterkopf kräuselten.
»Das ist das Letzte – halt still! So. Du siehst aus wie ein Paradiesvogel, Erica!«, sagte sie lächelnd, als sie das letzte Band verknotet hatte. Ich drehte meinen Kopf hin und her, und mir gefiel es, wie die Bänder über meinen Nacken strichen.
Die Auffahrt war von brennenden Fackeln gesäumt, die nach Paraffin stanken und in der Nachtluft flackerten. Sie erzeugten ein Geräusch wie knatternde Flaggen. Auf der Sonnenterrasse spielte ein Streichquartett, und lange Tische waren aufgebaut worden, mit weißen Tischtüchern und Reihen glänzender Gläser. Silberne Eiskübel auf hohen Beinen kühlten Champagnerflaschen, und die Kellner warfen mir mit hochgezogenen Brauen einen Blick zu, wenn ich die Finger hineintauchte und Eiswürfel stibitzte, um daran zu lutschen. Das Essen war vermutlich großartig, aber ich erinnere mich daran, dass ich mir einen Kaviarcracker schnappte, ihn mir in den Mund stopfte und ihn dann ins nächste Blumenbeet spuckte. Erwachsenengespräche, die wir nicht verstanden, flogen über unsere Köpfe hinweg. Gerüchte und Geschichten wurden hin und her gespielt, ohne dass jemand auf uns kleine Spione achtete.
Es erschien fast unsere gesamte Verwandtschaft zu dem Fest, Leute, die ich inzwischen nie mehr sehe, dazu jeder, der in der Grafschaft etwas darstellte. Ein Fotograf der Wiltshire Life drehte seine Runden und fotografierte die attraktivsten Frauen und die wichtigsten Männer. Pferdegesichtige Damen mit plattem Haar und großen Schneidezähnen protzten mit teuren Abendkleidern in allen Schattierungen von Rosa, Pfauenblau und Smaragdgrün. Für diese besondere Gelegenheit holten sie ihre Diamanten hervor, und dicke Steine funkelten auf sommersprossiger englischer Haut. Der ganze Garten war von ihrem Parfüm durchdrungen, und später, wenn getanzt wurde, auch von frischem Schweißgeruch. Die Herren trugen Smoking. Mein Vater fummelte an seinem Kragen und dem Kummerbund, weil er an die steifen Kanten und die vielen Schichten Stoff nicht gewöhnt war. Insekten wirbelten um die Laternen herum wie Funken, die aus einem Feuer stoben. Stimmen und Gelächter hallten über den Rasen, ein ständiges Getöse, das immer lauter wurde, je mehr Flaschen geleert waren. Nur das Feuerwerk brachte es zum Verstummen, und wir Kinder starrten hingerissen in den violetten Nachthimmel, an dem die bunten Lichter explodierten.
Ein ganzer Stab an Personal war für die Party angeheuert worden: Weinkellner, Köche, Kellnerinnen, die heiße Cocktailhäppchen auf großen Tabletts davontrugen, ruhige, unbestechliche Butler, die drinnen herumstanden, den Leuten höflich den Weg zu den Gästetoiletten zeigten und Neugierige davon abhielten, in die
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