Das Geheime Vermächtnis
freudigen Aufregung in Erwartung Deines ersten Enkelkindes und dem Grauen vor der Geburt! Tagtäglich rufe ich mir in Erinnerung, dass Frauen seit vielen, vielen Generationen erfolgreich Kinder gebären und dass es gewiss nichts gibt, was eine andere Frau kann, wozu nicht auch ich in der Lage wäre. Hattest Du Angst, als Du zum ersten Mal ein Kind erwartetest? Ich hoffe sehr, dass Du uns besuchen wirst, Mutter – ich würde mich über Deinen Rat sehr freuen. Das Haus ist kleiner, als Du es gewohnt bist, das schrieb ich ja bereits, aber dennoch behaglich. Ich habe das größte Gästezimmer mit neuen Vorhängen und neuer Bettwäsche ausgestattet – die vorhandene war doch recht abgenutzt –, sodass es jederzeit für Deine Ankunft bereit ist. Im Garten blühen überreichlich die Narzissen, die Du, wie ich weiß, besonders magst, und die umgebende Landschaft eignet sich wunderbar für einen leichten Spaziergang. Schreibe mir, ob Du kommen wirst und wann es Dir angenehm wäre. In Erwartung des freudigen Ereignisses hat Charles mir verboten, das Automobil zu fahren, aber unser Hepworth kann Dich jederzeit vom Bahnhof abholen – die Fahrt von dort ist kurz und keineswegs beschwerlich. Ich bitte Dich, komm.
In großer Zuneigung
Meredith
1931 war Meredith gerade einmal zwanzig Jahre alt. Zwanzig, verheiratet und schwanger mit einem Baby, das sie verloren haben muss, denn meine Mutter kam erst einige Zeit später auf die Welt. Ich lese den Brief noch einmal und versuche, mir Caroline in einem neuen Licht vorzustellen, als Mutter, die geliebt wurde, als jemand, den Meredith offensichtlich sehr vermisste. Der Brief macht mich traurig, und ich muss ihn noch einmal lesen, um dahinterzukommen, warum. Es ist ein so einsamer Brief. Von weit unten höre ich Beth, die mich zum Mittagessen ruft. Ich stecke den Brief zurück in die Mappe und klemme sie mir unter den Arm, ehe ich die Treppe hinuntersteige.
Es hört bis Dienstagnachmittag nicht auf zu regnen, und ich kann es kaum erwarten, wieder nach draußen zu kommen. Ich beneide Eddie, der erst nach Hause kommt, wenn es dunkel wird, mit feuchten Locken, die Jeans bis zu den Knien mit Matsch beschmiert. In welchem Alter fängt man eigentlich an, Kälte, Nässe und Schmutz wahrzunehmen? Ungefähr zu derselben Zeit, da man aufhört, überallhin zu rennen, nehme ich an. Im Kinderzimmer gähnt mich die leere Wand an, wo der Wäscheschrank stand. Er hat nur einen Abdruck von Staub und Spinnweben und nicht verblasster Farbe hinterlassen. Ich gehe hinüber zu den Wäschestapeln, die ich ausgeräumt habe, und beginne sie durchzusehen. Ich lege Kinderbettwäsche, spitzenbesetzte Schlafsäcke, winzige Kissenbezüge und ein überladenes Taufkleid beiseite, außerdem einen Haufen Musselintücher, die ich darunter finde, und eine kleine Daunendecke. Ich habe keine Ahnung, ob Honey und ihr Baby irgendetwas davon werden gebrauchen können, wenn es kommt. Hat sie überhaupt ein Babybett? Aber die Sachen sind aus gutem, schwerem Leinen, das sich ganz glatt anfühlt. Luxuriös. Vielleicht gefällt ihr die Vorstellung, ihr Kind in edle Bettwäsche zu legen, obwohl der umgebaute Armee-Krankenwagen ein eher einfaches Kinderzimmer hergeben wird. Wieder fallen mir diese Kissenbezüge mit der gelben Blumenstickerei ins Auge. Ich nehme mir vor, die Blumen nachzuschlagen und zu bestimmen – vielleicht verstehe ich dann, warum sie so an meinem Unterbewusstsein nagen.
»Wo willst du denn mit dem ganzen Zeug hin?«, fragt Beth, als ich meinen Stapel die Treppe hinunterschleppe.
»Zu Honey. Das sind alles Babysachen, ich dachte, vielleicht könnte sie sie gebrauchen.« Beth runzelt die Stirn. »Was ist denn?«, frage ich.
»Erica, warum versuchst du …«
»Was?«
»Du weißt schon. Ich finde, du solltest dich nicht so sehr bemühen, dich wieder mit ihnen anzufreunden, das ist alles.«
»Warum nicht? Außerdem bemühe ich mich gar nicht sehr darum. Sie sind jetzt unsere Nachbarn. Du hast dich doch auf der Party auch nett mit Dinny unterhalten.«
»Ihr habt mich da hingeschleift, Eddie und du. Es wäre unhöflich gewesen, nicht mit ihm zu sprechen. Aber ich … ich glaube, wir haben nicht mehr viel gemeinsam. Ja, ich bin nicht einmal sicher, ob wir ihn je so gut kannten, wie wir dachten. Und ich verstehe nicht, wozu es gut sein soll, jetzt so zu tun, als wäre alles wie früher.«
»Aber natürlich haben wir ihn gekannt! Was soll das denn heißen? Und warum sollte es nicht so sein wie früher,
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