Das Geheime Vermächtnis
nicht langweilig?«
»Machst du Witze? Er findet es ganz fantastisch hier! Wir bekommen ihn kaum noch zu sehen – er spielt den gan zen Tag lang draußen im Wald. Mum – könntest du mir einen Gefallen tun?«
»Ja, sicher, was denn?«
»Könntest du deine Kopie von diesem Familienstammbaum heraussuchen, den Mary zusammengestellt hat? Und sie mitbringen?«
»Ja, ich glaube schon. Ich muss sie nur finden. Wozu brauchst du sie denn?«
»Ich will nur etwas nachsehen. Hast du je davon gehört, dass Caroline schon vor ihrer Hochzeit mit Lord Calcott ein Kind hatte?«
»Nein, nie. Das würde ich auch stark bezweifeln – sie war noch sehr jung, als sie ihn geheiratet hat. Wie um alles in der Welt kommst du darauf?«
»Ich habe hier ein Foto gefunden – ich zeige es dir, wenn ihr da seid.«
»Also gut. Aber du weißt, dass du dich mit Fragen über die Familiengeschichte eigentlich an Mary wenden solltest. Sie hat schließlich die ganzen Nachforschungen angestellt …«
»Ja, da hast du wohl recht. Also, ich muss Schluss machen – wir sehen uns bald.«
Ich kann meine Tante Mary nicht anrufen – Henrys Mutter. Ich kann nicht am Telefon mit ihr sprechen. Ich bekomme so ein Gefühl, das kaum zu ertragen ist, als würde die Luft in meiner Lunge aushärten. Bei Merediths Beerdigung habe ich mich vor ihr versteckt, muss ich zu meiner Schande gestehen. Ich habe mich tatsächlich vor ihr versteckt, hinter einem riesigen Blumenarrangement aus Lilien.
Als es Zeit ist, ins Bett zu gehen, lege ich Carolines Schrei bmappe auf meine Knie und lese noch ein paar von Merediths Briefen. Die früheren stammen aus ihrer Zeit am College und erzählen von einer furchtbar strengen Benimmlehrerin, Schlafsaal-Politik oder einem Einkaufsbummel im Ort. Dann beginnen die einsamen Briefe aus Surrey. Ich sehe die Umschläge durch und finde dann einen, der in einem der Fächer der Mappe steckt. Die Adresse ist in einer völlig anderen Handschrift geschrieben. Das Papier darin fühlt sich an wie altes Laub, und ich berühre es ganz vorsichtig und falte das Blatt sehr sorgsam auseinander. Es ist nur eine Seite, der Brief gerade einmal einen Absatz lang. Die Handschrift ist viel größer als Merediths, die Feder mit energischem Druck geführt wie in großer Eile. Das Datum ist der 15. März 1905.
Caroline,
heute Morgen erhielt ich Deinen Brief, der mir nicht geringe Sorgen bereitet. Deine Hochzeit und Deine frohe Erwartung geben Anlass zu großer Freude, und niemand könnte zufriedener sein als ich, Dich mit einem Mann wie Lord Calcott verheiratet zu sehen, der imstande sein wird, Dir alles zu bieten, was zu einem glücklichen Leben gehört. Deine derzeitige Position unnötig zu gefährden wäre äußerst töricht. Was immer Du glaubst, gestehen zu müssen, ich kann Dir nur dringend raten: Alle Angelegenheiten im Zusammenhang mit Deinem früheren Leben in Amerika müssen so weit wie nur möglich in Amerika bleiben. Niemandem könnte damit gedient sein, wenn Du solche Dinge jetzt wieder zur Sprache bringst. Sei dankbar für den neuen Anfang, der Dir geschenkt wurde, für den glücklichen Zufall, der zu einer so vorteilhaften Ehe führte, und lass dies die letzten Worte sein, die wir darüber wechseln. Solltest Du Dich oder Deine Familie in irgendeiner Weise beschämen oder in Verruf bringen, bliebe mir keine andere Wahl, als mich von Dir loszusagen, so schmerzlich mir das auch wäre.
Deine Tante
B.
Die Unterstreichung unter den Worten in Amerika bleiben hat das Papier fast zerrissen. Ein schwerer, brutaler Strich. In der Stille, die folgt, nachdem ich diese schallenden Worte gelesen habe, sehe ich all die Geheimnisse in diesem Haus wie Schneewehen herumliegen, so tief wie die Schatten in den Ecken des Zimmers.
Am Weihnachtsabend treffen unsere Eltern ein, und ihr vertrautes Auto, das die Auffahrt entlangkommt, erscheint mir wie ein kleines Wunder. Es ist ein Beweis für eine Welt da draußen, ein Beweis dafür, dass dieses Haus, Beth und ich, auch ein Teil dieser Welt sind. Ich wollte Eddie heute Vormittag eigentlich im Haus behalten – jedenfalls habe ich das Beth vorgeschlagen, aber er ist vor uns aufgestanden und verschwunden. Eine leere Schüssel in der Spüle, in der ein paar Cornflakes antrocknen, und ein halbes Glas Limonade auf dem Tisch sind alles, was wir von ihm gesehen haben.
»Ich fürchte, wir haben euren Enkel verloren«, sage ich, küsse Dad und hole die Reisetaschen aus dem Kofferraum. Vielleicht war das nicht die
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