Das Geheime Vermächtnis
aus New York hierher. Sie hat ziemlich schnell einen Mann mit einem Adelstitel geheiratet, und das war’s.«
Ich nicke, seltsam enttäuscht.
»Vielleicht war es das Baby einer Freundin. Ein Patenkind. Wer weiß?«, fügt Mum hinzu.
»Das könnte sein.« Ich nehme ihr das Foto wieder ab und betrachte es eingehend. Mein Blick sucht Carolines linke Hand, den Ringfinger, doch der ist im gefältelten Kleid des geisterhaften Kindes verborgen. »Hättest du etwas dagegen, wenn ich dieses hier behalte? Nur eine Weile?«, frage ich.
»Natürlich nicht, Liebes.«
»Ich … ich habe ein paar von ihren Briefen gelesen. Carolines Briefe.« Es widerstrebt mir irgendwie, das zu gestehen. Als würde man ein fremdes Tagebuch lesen, selbst wenn der Besitzer längst verstorben ist. »Hast du diesen Stammbaum dabei? Da war ein Brief von einer Tante B.«
»Hier, bitte. Carolines Seite ist ein bisschen dürftig, fürchte ich. Ich glaube, Mary hat sich mehr für die Calcott-Linie interessiert – und natürlich müssen alle Aufzeichnun gen über Carolines Familie in Amerika sein.« Carolines Seite ist praktisch nicht existent, bis auf die Namen ihrer Eltern. Keine Tanten oder Onkel, nur ein ganz kleiner Seiten zweig, bevor Caroline sich 1905 dem Hauptstamm anschloss. Caroline Fitzpatrick hieß sie damals.
Ich betrachte ihren Namen eine Weile und warte, obwohl ich nicht recht weiß, worauf.
»In diesem Brief hat ihre Tante – Tante B. – geschrieben, was auch immer in Amerika passiert sei, müsse in Amerika bleiben, und Caroline dürfe nichts tun, was ihre Ehe mit Lord Calcott gefährden könnte. Weißt du irgendetwas darüber?«, frage ich. Mum schüttelt den Kopf.
»Nein. Gar nichts, tut mir leid.«
»Was, wenn sie tatsächlich ein Baby hatte, ehe sie hierherkam und geheiratet hat?«
»Also, zunächst einmal hätte sie es dann gar nicht zu dieser Hochzeit gebracht! Mädchen aus gutem Hause haben damals nicht einfach so ein uneheliches Kind bekommen. Das wäre undenkbar gewesen.«
»Aber wenn sie mit jemand anderem verheiratet war, vor Lord Calcott? Ich habe oben auf dem Dachboden etwas gefunden – in der Truhe, in die Meredith Carolines ganze Sachen verstaut hat. Darauf ist Für einen prächtigen Sohn eingraviert«, erzähle ich ihr.
Mum zieht leicht die Augenbrauen hoch und überlegt. »Wahrscheinlich gehörte es Clifford. Was für ein Etwas ist es denn?«
»Ich weiß nicht – es hängt ein Glöckchen daran. Ich hole es nachher und zeige es dir.«
Wir schlendern ins Musikzimmer. Mum nimmt ein Foto nach dem anderen vom Flügel und betrachtet jedes mit einer Miene, die zwischen unterschiedlichen Gefühlen schwankt. Sie streicht mit dem Daumen über das Glas über dem Hochzeitsporträt von Charles und Meredith. Eine sinnlose kleine Geste voller Zärtlichkeit.
»Vermisst du sie?« Das ist normalerweise eine dumme Frage, wenn jemandes Mutter gestorben ist. Aber Meredith war anders.
»Natürlich. Ja, ich vermisse sie. Es wäre schwer, jemanden nicht zu vermissen, der einen Raum so beherrschen konnte wie meine Mutter.« Mum lächelt, stellt das Foto wieder zu rück und wischt die Spuren ihrer Finger mit dem weichen Ärmel ihrer Strickjacke ab.
»Warum war sie so? Ich meine, warum war sie so … zornig ?«
»Caroline war grausam zu ihr.« Mum zuckt mit den Schultern. »Nicht körperlich, nicht einmal verbal … viel leicht noch nicht einmal mit Absicht. Aber wer kann schon sagen, was für ein Schaden angerichtet wird, wenn ein Kind so ungeliebt aufwächst?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Mutter ihr Kind nicht lieben könnte. Aber auf welche Art war sie grausam zu Meredith?«
»In tausenderlei Kleinigkeiten.« Mum seufzt und denkt kurz nach. »Zum Beispiel hat Caroline ihr nie ein Geschenk gemacht. Nicht ein einziges Mal. Weder zum Geburtstag noch zu Weihnachen, nicht einmal, als Meredith noch ganz klein war. Nicht an ihrem Hochzeitstag, nicht zu meiner Geburt. Überhaupt nie. Kannst du dir vorstellen, wie so etwas … an einem nagt?«
»Aber wenn sie nie ein Geschenk bekommen hat, hat sie doch vielleicht gar keines erwartet?«
»Jedes Kind weiß, was ein Geburtstagsgeschenk ist, Erica – man braucht nur irgendein Kinderbuch zu lesen. Und das Personal hat ihr manchmal Kleinigkeiten geschenkt, als sie noch ein Kind war – Mutter hat mir erzählt, wie viel sie ihr bedeutet haben. Ein Kaninchen – ich erinnere mich, dass sie das einmal erwähnt hat. Die Haushälterin hat
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