Das Geheime Vermächtnis
erschauern.
Irgendwann gegen Mitternacht lässt der Regen nach, die Wolken ziehen ab, und ein heller Mond blendet den nächtlichen Himmel. Er beleuchtet die grünen Tapetenranken, die die Wände in meinem Zimmer erklimmen, den Kleiderschrank und das Bogenfenster, das nach Osten zur Auffahrt hinausgeht. Die kahle Kastanie davor beherbergt eine Krähenkolonie, deren Nester wie Klumpen zwischen den dürren Zweigen kleben. Ich kann nicht einschlafen. Meine Gedanken wirbeln immer wieder hoch, wenn ich gerade eindöse, und lassen Gesichter und Namen und Erinnerungen aufsteigen wie Silvesterraketen. Cognac hat manchmal so eine Wirkung auf mich. Ich muss jeden einzelnen Gedanken aus dem verschlungenen Knäuel herauslösen, ihn aus meinem Geist zupfen und davonwehen lassen. Aber die Erinnerungen an Dinny behalte ich; die lasse ich nicht los. Ich habe auch neue, die ich den abgegriffenen, sonnigen hinzufügen kann. Jetzt weiß ich, wie er im Wintergrau aussieht, im Regen, im Feuerschein. Ich weiß, wie Alkohol bei ihm wirkt. Ich weiß, wovon er lebt, wie er lebt. Ich weiß, wie dieses breite, faule Kinderlächeln älter geworden ist, sich verändert hat, zu einem kurzen Aufblitzen von Zähnen in seinem dunklen Gesicht. Ich weiß, dass er uns etwas verübelt, Beth und mir. Und vielleicht werde ich bald eine Ahnung davon bekommen, was das ist.
Der Weihnachtsmorgen vergeht in einem eiligen, tröstlich vertrauten Nebel aus Essensvorbereitungen, Champagner und Haufen von glänzendem, zerrissenem Geschenkpapier. Dad hilft Eddie, seine neue Spielekonsole auszupacken, und sie experimentieren damit an dem winzigen Fernseher im Arbeitszimmer, während wir Frauen uns in der Küche ausbreiten. Der Truthahn passt kaum in den Ofen. Wir müssen die Beine hineinstopfen, und die Enden werden schwarz, wo sie die Wände des Backofens berühren.
»Macht nichts. Alle essen sowieso am liebsten Brust«, sagt Mum zu Beth, die nervös in den kleinen Rauchfähnchen aus dem Ofen herumwedelt. Es wird Stunden dauern, bis der Braten fertig ist, und Beth erklärt, sie habe Kopfschmerzen und wolle sich hinlegen. Als sie geht, wirft sie uns einen stummen, verärgerten Blick zu. Sie weiß, dass wir jetzt über sie reden werden. Ich weiß nicht, ob sie schläft, wenn sie sich so zurückzieht, oder nur daliegt, aus den Rissen in der Zimmerdecke Weissagungen herausliest oder zusieht, wie die Spinnen den Lampenschirm einwickeln. Ich hoffe, sie schläft.
Mum und ich rutschen auf die Küchenbänke, fassen uns über den Tisch hinweg bei den Händen, und unser Gespräch drückt sich verlegen um den Drang herum, über Beth zu reden. Ich breche das Schweigen.
»Ich habe bei den Fotos auch einen Haufen Zeitungsausschnitte gefunden, in einer von Merediths Schubladen. Über Henry«, füge ich überflüssigerweise hinzu. Mum seufzt und entzieht mir ihre Hände.
»Der arme Henry«, sagt sie und fährt sich mit den Fingern über die Stirn, als streiche sie ein imaginäres Haar zurück.
»Ich weiß. Ich habe in letzter Zeit sehr oft an ihn gedacht. Daran, was passiert ist …«
»Was meinst du damit, was passiert ist?«, fragt Mum mit scharfer Stimme. Ich blicke von dem Daumennagel auf, an dem ich herumgespielt habe.
»Na ja, dass er verschwunden ist. Einfach so«, sage ich.
»Oh.«
»Warum? Was glaubst du denn, was ihm passiert ist?«
»Ich weiß es nicht! Natürlich weiß ich es nicht. Eine Zeit lang dachte ich … dass ihr Mädchen vielleicht mehr wusstet, als ihr uns gesagt habt …«
»Du glaubst, wir hatten etwas damit zu tun?«
»Nein, natürlich nicht! Ich dachte nur, dass ihr vielleicht jemanden schützt.«
»Du meinst Dinny.« Etwas flackert in mir auf.
»Ja, also schön, Dinny. Er war hitzköpfig, euer junger Held. Aber, Erica, Henry ist verschwunden! Er wurde entführt, da bin ich ganz sicher. Jemand hat ihn sich geschnappt und ihn verschleppt, und das war das Ende. Falls ihm hier auf dem Anwesen etwas zugestoßen wäre, irgendetwas, dann hätte die Polizei Hinweise darauf gefunden. Er wurde entführt, und mehr ist an der Sache nicht dran«, endet sie, nun wieder ruhig. »Es ist schrecklich, dass das passiert ist, aber niemand hat Schuld daran außer der Person, die ihn entführt hat. Es gibt da draußen nun mal ein paar sehr gefährliche Menschen, und Henry hatte das Pech, einem davon zu begegnen.«
»Ja, kann sein«, sage ich. Nichts davon klingt für mich nach der Wahrheit. Es überzeugt mich nicht. Eddie hat am Teich einen Stein geworfen, und
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