Das Geheime Vermächtnis
fragt Beth besorgt. Sie ist inzwischen überaus sensibel, was die Verletzungen angeht, die Kinder ihren Eltern manchmal unbedacht zufügen. Mum und Dad wechseln einen Blick, und Dad lächelt Mum zärtlich an.
»Nein, nicht unbedingt«, antwortet Mum. »Es wäre schön gewesen, wenn ihr gern mehr Zeit mit uns verbracht hättet …« In der schockierten Stille, die auf diese Worte folgt, wechseln Beth und ich einen schuldbewussten Blick, und Mum lacht. »Ist schon gut, Mädchen! Das war damals nur der erste Anflug des Empty-Nest-Syndroms, weiter nichts.«
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das werden soll, wenn Eddie studiert. Es ist schon schlimm genug, dass er jetzt die ganze Woche über im Internat wohnt«, murmelt Beth und verschränkt die Arme.
»Du wirst ihn wie verrückt vermissen, du wirst ihn nach Strich und Faden verwöhnen, wenn er zu Besuch kommt, und du wirst dir ein neues Hobby suchen – wie alle Mütter, Liebes«, sagt Mum und legt einen Arm um Beths knochige Schultern.
»Außerdem ist das noch lange hin«, tröste ich sie. »Er ist schließlich erst elf.«
»Ja, aber vor fünf Sekunden war er noch ein kleines Baby!«, erwidert Beth.
»Sie werden so schnell erwachsen«, sagt Dad nickend. »Sei froh darüber, Beth! Wenn du sechs Jahre lang einen Teenager im Haus hattest, wirst du dich darauf freuen, dass er endlich an die Uni geht!«
»Und denk nur an die ganzen lustigen Phasen, die du bis dahin noch vor dir hast – die Streitereien darüber, wann er zu Hause sein soll, die Fahrstunden, die erste Freundin, die bei ihm übernachten will. Du wirst Pornohefte unter seinem Bett finden … und ihm morgens in die trüben Augen schauen und dich fragen, was für Drogen er am Abend zuvor genommen hat …«
»Erica! Also wirklich!«, ermahnt mich meine Mutter, und Beths Augen weiten sich vor Entsetzen.
»Entschuldigung.« Ich grinse schief.
»Du hast zu lange unterrichtet, Rick«, bemerkt Dad lachend. Beth sieht mich mit hochgezogenen Brauen an.
»Das Selbstgefällige-Tante-Syndrom – das ist dein Problem. Du darfst mir bei alledem zuschauen und dir ins Fäustchen lachen, während ich alles falsch mache und mir die Haare raufe«, sagt sie vorwurfsvoll.
»Komm schon, Beth. Das war nur ein Witz. Du hast als Mutter noch nie versagt«, sage ich zu ihr und spreche hastig weiter, ehe eine Pause entstehen kann, in der uns allen ihr gewaltiges Versagen in den Sinn kommen würde, das noch nicht allzu lange zurückliegt. »Kommt, esst ein paar Mince Pies – Beth hat sich wieder einmal selbst übertroffen.«
Später zeige ich Mum die Fotos, die ich für sie zusammengesucht habe. Sie identifiziert die Leute, die ich nicht kenne – entferntere Verwandte, inzwischen verstorben, verblasst, die nur ihre Gesichter auf Papier und Spuren ihres Blutes in unseren Adern hinterlassen haben. Ich zeige ihr das Bild von Caroline mit dem Baby im Arm, das in New York aufgenommen wurde. Mum mustert es stirnrunzelnd.
»Also, das ist eindeutig Caroline – diese hellen Augen! Sie war schön, nicht?«
»Aber was hatte sie in New York zu suchen? Und wessen Baby ist das, wenn sie Lord Calcott erst neunzehnhundertfünf geheiratet hat? Glaubst du, sie haben schon vor der Hochzeit ein Kind bekommen?«
»Was soll das heißen, was sie in New York zu suchen hatte? Sie stammte aus New York!«
»Caroline? Sie war Amerikanerin? Wie ist es möglich, dass mir das nie jemand erzählt hat?«
»Na ja, wie ist es möglich, dass du das nicht gemerkt hast? Bei ihrem Akzent …«
»Mum, ich war doch noch so klein. Wie hätte mir da ihre Aussprache auffallen können? Und sie war damals schon uralt. Sie hat kaum noch etwas gesagt.«
»Das ist wahr.« Mum nickt.
»Tja, das erklärt jedenfalls, warum sie neunzehnhundertvier in New York war. Wer ist dann das Kind?«, dränge ich auf eine Antwort. Mum holt tief Luft und bläst die Backen auf.
»Keine Ahnung«, sagt sie. »Sie hätte unmöglich vor der Hochzeit ein Kind von Henry bekommen können, selbst wenn das keinen gewaltigen Skandal verursacht hätte. Sie ist ihm nämlich erst gegen Ende neunzehnhundertvier begegnet, als sie nach London kam. Im Jahr darauf haben sie geheiratet, also recht bald, nachdem sie sich kennengelernt hatten.«
»Und, war sie vorher schon einmal verheiratet? Hat sie ihr Baby mit hierhergebracht?«
»Nein, das glaube ich nicht. Du solltest wirklich lieber Mary fragen. Soweit ich weiß, kam Caroline als reiche Erbin mit einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahren
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