Das Geheime Vermächtnis
ihr irgendwann ein Kaninchen zum Geburtstag geschenkt.«
»Das ist … wirklich traurig«, sage ich. »Hielt Caroline denn nichts von Geschenken?«
»Ich glaube, sie hat einfach nicht auf das Datum geachtet. Ich glaube ehrlich, dass sie gar nicht wusste, wann Meredith Geburtstag hatte. Es war, als hätte sie dieses Kind überhaupt nicht zur Welt gebracht.«
»Aber wenn Caroline so abscheulich war, warum hat Meredith so sehr an ihr gehangen? Warum ist sie mit dir und Clifford wieder hier eingezogen, nachdem euer Vater gestorben war?«
»Na ja, schwierig oder nicht, Caroline war ihre Mutter. Meredith hat sie geliebt, und sie hat immer versucht … sich vor ihrer Mutter zu beweisen.« Mum klappt den Deckel des Flügels auf und schlägt die höchste Taste an. Der Ton strömt hervor und erfüllt den Raum, perfekt gestimmt. »Wir durften nie auf diesem Klavier spielen. Erst, als wir ein gewisses Niveau erreicht hatten. Stattdessen haben wir auf dem zerschrammten alten Klavier oben im Kinderzimmer geübt. Clifford ist nie so weit gekommen, aber ich schon. Kurz bevor ich zum Studium weggezogen bin.«
»Unter Carolines Sachen sind viele Briefe von Meredith. Sie klingen alle ziemlich traurig, als wäre sie immer recht einsam gewesen – auch als sie verheiratet war.«
»Tja«, seufzt Mum. »Ich kann mich nicht an meinen Vater erinnern, deshalb weiß ich nicht, wie es vor seinem Tod war. Sie hat ihn geliebt, sehr sogar, glaube ich. Vielleicht zu sehr. Caroline hat einmal zu mir gesagt, eine solche Liebe zu verlieren hinterließe eine Leere, die man nie wieder füllen könne. Ich erinnere mich ganz deutlich daran, weil sie so selten mit mir gesprochen hat. Oder mit Clifford – sie schien uns Kinder kaum zu bemerken. Ich habe Mum draußen im Garten beobachtet und bin richtig erschrocken, als sie das zu mir gesagt hat, weil sie sich so lautlos an mich herangeschlichen hatte.«
»Da konnte sie also noch laufen?«
»Aber natürlich! Sie war nicht immer steinalt.«
»Aber warum hat Caroline Meredith nicht geliebt? Das verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht, Liebes. Deine Urgroßmutter war eine sehr merkwürdige Frau. Sehr distanziert. Manchmal habe ich mich neben sie gesetzt und versucht, mich mit ihr zu unterhalten, aber ich habe bald gemerkt, dass sie mir überhaupt nicht zugehört hat. Sie hat einfach durch einen hindurchgestarrt mit diesen seltsamen grauen Augen. Kein Wunder, dass Meredith so früh geheiratet hat – sie muss heilfroh gewesen sein, jemanden gefunden zu haben, der ihr zuhörte!«
»Es ist erstaunlich, wie normal du bist. Was für eine großartige Mutter du bist.«
»Danke, Erica. Dein Vater hat da natürlich sehr geholfen. Mein edler Retter! Wenn ich nach dem Uni-Abschluss hierher zurückgekehrt wäre, wenn ich so lange hier gelebt hätte, bis ich die beiden allmählich hassen gelernt hätte … wer weiß?«
»Vielleicht ist nicht jede Frau dazu geschaffen, Mutter zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Meredith gern gekuschelt hat …«
»Nein, aber sie war eine gute Mutter, zum Großteil. Streng natürlich. Aber sie war nicht so … barsch, als wir noch klein waren, das kam erst später, als wir wieder ein paar Jahre hier gelebt haben. Caroline wurde immer gebrechlicher, und meine Mutter musste sich viel um sie kümmern. Ich glaube, das hat sie ungern getan. Sie hat für uns ihr Bestes gegeben, aber sie ist wohl nie über den Tod meines Vaters hinweggekommen, und die Enttäuschung darüber, dass ihr Leben hier begann und auch hier endete – sie und Caroline, zusammengesperrt in diesem alten Haus. Aber wir sind doch eigentlich ganz gut geraten, nicht? Clifford und ich?«, fragt sie mich, und ihr Gesicht ist von plötzlicher Traurig keit gezeichnet. Ich gehe zu ihr hinüber und nehme sie in den Arm.
»Mehr als gut.«
»Ich will ein paar Küsse sammeln!«, verkündet Dad, der uns gefunden hat, mit einem Mistelzweig und einem Grinsen.
Nach dem Abendessen legen wir alle unsere Geschenke unter den Baum. Eddie sieht in seinem marineblauen Morgenmantel mit Monogramm, gestreiftem Schlafanzug und roten Filzpantoffeln aus wie ein kleiner Gentleman. Er kontrolliert die Kärtchen an den Geschenken und platziert jedes einzelne sorgfältig nach irgendeiner persönlichen Ordnung. Wir trinken Cognac und hören Weihnachtslieder. Draußen klatscht der Regen in Wellen gegen das Haus. Es klingt, als würde jemand ganze Hände voll Kieselsteinchen an die Scheiben werfen. Das Geräusch lässt mich
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