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Das Geheimnis am goldenen Fluß

Titel: Das Geheimnis am goldenen Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Canter Mark
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klassisches Ming-Design. Siehst du die Schriftzeichen? Man nennt sie t’ien-shu, ›Wolkenschrift‹.«
    »Und was steht da?«
    »Weiß ich nicht. Wolkenschrift wird nur von taoistischen Priestern zum Verfassen mystischer Texte verwendet. Selbst mein Vater hat sie nie zu lesen gelernt.«
    »Konnte Gib sie lesen?«
    »Ja.«
    »Natürlich. Überrascht mich nicht.«
    Mason war dreizehn gewesen, als er Gib kennen lernte. Gib war zwei Jahre älter und zwanzig Zentimeter größer, und Mason hatte zu seiner großen Erleichterung schnell festgestellt, dass er nicht länger das klügste Kind im Universum war, nicht einmal in Dixon County.
    Gib sprach verschiedene chinesische Dialekte, und sein Englisch hatte einen charmanten britischen Akzent. Bis er Gib begegnet war, hatte Mason nicht einen Jungen gekannt, der ein Buch gelesen hätte, ohne vom Lehrer dazu angehalten worden zu sein, oder der einen dicken Wälzer der in der Stadtbücherei erhältlichen Zusammenfassung vorzog. Gib verschlang Bücher wie ein Gourmet Austern. Er machte sich Gedanken über Dinge; mehr noch, er konnte eloquent über sie reden: ob wissenschaftlich oder poetisch, ob mystisch oder erdverbunden, mit seinem offenen Verstand sprühte er förmlich vor Ideen, die Mason ein ums andere Mal in Erstaunen versetzten. An dem Nachmittag, als sie sich in der kärglichen Bücherei kennen lernten, hatten er und Gib auf den kühlen Marmorstufen gehockt und ohne Pause drei Stunden miteinander geredet. Mason war es vorgekommen, als wären er und Gib wiedervereinte Zwillinge, und abgesehen davon, dass sie von verschiedenen Müttern zur Welt gebracht worden waren – ein Lieferirrtum –, waren sie tatsächlich Brüder im Geiste.
    Und dann wurde das Leben sogar noch besser. Gibraltars bester Freund war seine große schlanke Schwester, Teresa. Auch sie las Bücher. Und sprach fließend Chinesisch. Und spielte hervorragend Klavier. Und sang Joan-Baez-Lieder besser als Joan Baez. Und tanzte zur Musik Marvin Gayes, als wollte sie den Mond vom Nachthimmel holen. Nicht lange, und Gib, Tree und Mason hatten eine Dreiergesellschaft gebildet.
    Es dauerte, bis Mason siebzehn war, bis sich die dritte und einschneidendste Überraschung ereignete. Eines Abends war er auf die Veranda des alten Steinhauses zugeschlendert, wo Tree saß und auf ihrer Wandergitarre ein Baez-Lied schrammelte. Sie hatte im weichen rötlichen Dämmerlicht aufgeschaut und ihn mit ihren meeresgrünen Augen angesehen. Und mit einem Mal hatte er gewusst, dass ein wunderschönes Mädchen in einem gelben Sommerkleid den entscheidenden Unterschied machte, für immer.
    Mason riss sich aus den Gedanken und kehrte in die Gegenwart zurück.
    »… mein Vater suchte nur nach Ruinen«, sagte Tree. »Und vielleicht nach gemischtrassigen Indianern, deren Sprache mit Mandarin- oder Han-Ausdrücken angereichert ist – nicht nach einer lebendigen, existenten chinesischen Kultur.«
    »Ich kann nicht glauben, dass eine Gruppe von Menschen ohne Verpflegung und Hilfsmittel hier oben überleben könnte«, sagte Mason. »Nicht mal einen Monat, geschweige denn – was? Fünfhundert Jahre.«
    »Aber der abgerichtete Sturmadler beweist, dass …«
    »Vielleicht ist er aus dem Tiefland hochgeflogen.« Seine Augenbrauen wölbten sich, und er schnippte mit den Fingern. »Natürlich – das ist es.«
    Ihre Züge erhellten sich. »Das Tal.«
    »Der erste Adler stieg aus dem Tal auf. Das muss es sein. Dort ist die Kolonie.«
    »Allmächtiger.« Sie ließ sich auf einen Klappstuhl fallen, und in ihrer Hand klimperte die Glocke. »Wir haben El Dorado gefunden.«
    Mason dachte an den Fleischklumpen, der von Lyndas Gesicht übrig geblieben war. »Ich würde sagen, sie versuchen verzweifelt, nicht entdeckt zu werden.«
    Er ging zur Schiebetür und spähte aus dem Fenster. Der Wind pfiff um das Floß und wehte Myriaden winziger Kieselsteine an die Fiberglasscheibe. Er sah zu den Einzelteilen der Funkgeräte auf dem Arbeitstisch zurück, dann zu Tree.
    Komm schon, Mason, hör auf, dir was vorzumachen. Selbst wenn es ihm gelänge, ein funktionierendes, tragbares Funkgerät zusammenzubasteln, blieb die Hauptantenne zerstört, und die Chancen, mit einem Handsprechgerät Canaima zu erreichen, so dass der dortige Mann am Kurzwellenempfänger den Notruf an die Nationalgarde in Luepa weitergab, waren gleich Null. Und selbst wenn er durchkäme, würde es mindestens eine Woche dauern, bis ein Hubschrauber sie vom Hochplateau holte. Zu diesem

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