Das Geheimnis am goldenen Fluß
Großartigste war immer das Vergangene – das goldene Zeitalter ihrer Ahnen.
Mason lächelte K’un-Chien an. »Unser Verhalten mag dir zwar unangemessen erscheinen; könnte es aber sein, dass es spontaner ist und mehr Spaß macht?«
K’un-Chiens Lächeln breitete sich nun über ihr ganzes Gesicht aus. »Ja, May-Son. Merkwürdig. Aber vielleicht ist dies tatsächlich der Fall.«
»Und nun«, sagte Mason, »würde ich dich gerne mit deiner Erlaubnis begleiten und deinen Bruder kennen lernen.«
K’un-Chiens Augen wurden groß.
»Wenn du lieber allein gehen möchtest …«
»Nein, nein«, sagte K’un-Chien. »Es wäre schön, wenn du mitkommst. Meng Po würde sich freuen, euch beide kennen zu lernen.« Sie nickte Tree zu. »Er ist sehr einsam.«
»Kann ich verstehen«, sagte Mason. »Langsam geht es mir auf die Nerven, dass man in dieser Stadt keine anderen Männer sieht.«
»Etwas geht auf deinen Nerven?«, fragte K’un-Chien. »Heißt das, dass sie wehtun? Soll ich dir einen Nervenbalsam anrühren?«
Tree lachte. »Nein, ›auf die Nerven gehen‹ bedeutet, dass einen etwas stört.«
Mason grinste. »Ich vergesse ständig, dass man bestimmte Ausdrücke nicht wörtlich übersetzen kann.«
»Es wäre mir ein Vergnügen, deinen Bruder kennen zu lernen«, sagte Tree.
»Na dann los. Zeig uns, wo es langgeht, K’un-Chien.«
K’un-Chien wandte sich in die Richtung, wo ihr Bruder wohnte, und Tree und Mason folgten ihr.
Nach einigen Minuten blieb K’un-Chien stehen und drehte sich zu Mason um. »May-Son, ich möchte mich bei dir bedanken.«
»Wofür?«
»Dass du mich um Erlaubnis gebeten hast, mich zu meinem Bruder begleiten zu dürfen. Bis heute – bis ich dir begegnete – hat mich niemals jemand um Erlaubnis gebeten.«
Er zuckte mit den Schultern. »So gehen Freunde miteinander um. Es ist völlig natürlich, dass Menschen ein Mitspracherecht haben in Dingen, die sie betreffen.«
»Hier ist es völlig un natürlich, so zu denken«, sagte K’un-Chien. »Sogar verboten.«
»Sie hat Recht«, sagte Tree auf Englisch. »Um unser aller willen, Mason, lass uns unsere kleine Sozialrevolution ge heim halten. Si fueris Romae, Romano vivito more.«
Mason wusste, dass Tree Recht hatte. Wenn du in Rom bist, lebe nach römischen Sitten. »Wenn wir allein sind, K’un- Chien, können wir frei miteinander umgehen. In der Öffentlichkeit sollten wir uns lieber an die in deiner Gesellschaft gültigen Normen halten.«
»Ja, May-Son«, sagte K’un-Chien und schien erleichtert, als sie sich ein paar Schritte hinter sie zurückfallen ließ.
Sie gingen weiter und gelangten an eine Halbmondbrücke, die einen schäumenden Fluss überspannte. Auf der anderen Seite der Brücke führte ein Steinweg in den dreigeteilten Bogengang eines Kuppelbaus. Der kleine Palast sah aus wie eine umgedrehte, in Gold getauchte Kartoffelrübe.
Am Ende des Bogengangs stand die zehn Meter hohe Statue einer grimmig blickenden Kriegerin in Brustpanzer und Rock, ihr Kopf umkränzt von stilisierten Flammen, eine gigantische Faust gehoben, um Eindringlinge zu zermalmen. Neben jeder der kolossalen Sandalen stand eine leibhaftige Soldatin und hielt Wache. Ihre Lanzen überkreuzten sich und versperrten den Durchgang, während sie mit wachsamen Augen das näher kommende Trio musterten. K’un-Chien hob ihre geöffneten Handflächen in Richtung der Wachen, und Mason und Tree taten es ihr nach.
»Seid gegrüßt«, sagte K’un-Chien und blieb stehen. »Ich habe die Barbaren mitgebracht. Sie möchten meinen Bruder kennen lernen.«
Eine der Wachen nickte. »Geht durch.«
Die Wachen zogen ihre Lanzen zur Seite, und die drei Besucher gingen unter der steinernen Gigantin hindurch.
Mason schaute ihr von unten in den Schritt. Tree stieß ihm einen Ellbogen in die Rippen. Ein aus Granit gemeißeltes Tuch bedeckte die Blöße der Titanin.
In dem weitläufigen Raum trugen helle Jadesäulen von der Farbe grünen Tees eine hoch aufragende gewölbte Decke. In der Mitte stand etwas, das für Mason wie ein riesiger vergoldeter Vogelkäfig aussah. An jeder Ecke stand eine Wache. Hinter den goldenen Gitterstäben hockte ein chinesischer Junge in gelbem Satingewand und roten Seidenschuhen auf Händen und Knien auf einer ausgerollten Schriftrolle und malte mit einem langstieligen Pinsel Kalligraphien.
Neben dem Jungen hockte der schönste Primat, den Mason je gesehen hatte, und malte breite Striche auf eine eigene Schriftrolle. Mason sah Tree an. Sie starrte
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