Das Geheimnis am goldenen Fluß
sie so hektisch?«, fragte Mason K’un-Chien und deutete auf eine dicht beieinander stehende Gruppe von Frauen. Sie riefen aufgeregt durcheinander und wedelten mit Bündeln von Reispapierscheinen.
»Sie spielen.«
»Dachte ich mir. Aber worauf setzen sie?«
»Darauf, welcher taotie die Schlacht gewinnen wird.«
»Taotie?« Mason sah Tree an.
»Monstergesicht«, sagte Tree achselzuckend.
»Das will ich sehen«, sagte er und drängelte sich in den Pulk. Tree spähte über seidenbedeckte Schultern. K’un-Chien blieb zurück.
Auf einem hohen Hocker stand ein Käfig aus dünnen Bambusstäben. In ihm umkreisten sich zwei Käfer wie Insektengladiatoren, jeder größer als ihre Hand. Hirschkäferartige Geweihe ragten über deren Scheren heraus, die sich öffneten und zuschnappten, klick-klick, klick-klick. Das schwarzweiße Muster auf dem Rücken sah aus wie ein fauchendes Monstergesicht mit runden schwarzen Augen, groß wie Zehncentmünzen; die echten Augen waren Stecknadelköpfe, die auf beiden Seiten des schnabelförmigen Mauls lagen. Während die Kombattanten herumkrochen, brach sich das Licht in ihren gefalteten Chitinflügeln in rote, goldene, grüne und blaue Lichtreflexe. Klick-klick, klick-klick, klick-klick, klick-klick.
Einer der Käfer sprang vor und brachte sein Geweih unter den glänzenden Bauch seines Gegners. Einige der Zuschauerinnen jubelten, andere seufzten verärgert.
Der angreifende Käfer drängte den anderen zwischen die Gitterstäbe des Käfigs, wo der zurückweichende Kämpfer Halt fand und den Angreifer zum Stillstand brachte. Daraufhin spreizte der dominierende Käfer seine orangefarbenen Flügel, hob sich sirrend in die Luft und warf seinen Gegner auf den Rücken. Dann schlug er ihm die Scheren in den Spalt zwischen Körper und Kopf und zerrte, bis der Kopf abriss und in die andere Ecke des Käfigs flog.
Jubel, Gelächter und enttäuschtes Seufzen. Geldbündel wechselten die Besitzer.
Tree war schlecht geworden. Als sie weitergegangen waren, wurde ihr bewusst, dass sie eine Hand im Nacken hielt.
K’un-Chien warf ihr ein sanftes, mysteriöses Lächeln zu.
»Was?«, fragte Tree.
»Erste Frau hat ein weiches Herz«, sagte K’un-Chien. »Du magst es nicht, einem Krieg zuzuschauen, selbst nicht einem zwischen Käfern. Ich auch nicht.«
»Thailänder hetzen Kampffische aufeinander«, sagte Tree, »Mexikaner lassen Hähne gegeneinander kämpfen, Koreaner Hunde – es ist grauenhaft.«
»Entschuldige«, sagte Mason auf Englisch. »Ich war neugierig. Es ist eine unbekannte Spezies.«
»Eine uns unbekannte«, sagte Tree. »Lynda erzählte mir mal, dass fünfundsiebzig Prozent aller Spezies auf der Erde Insekten und fünfzig Prozent aller Insekten Käfer seien. Vermutlich ist es einfach eine Spezies, von der du und ich noch nichts gehört haben.«
»Nicht in diesem Fall. Zufällig weiß ich, dass der größte uns bekannte Käfer der Goliathkäfer ist; der wiegt immerhin stolze hundert Gramm, und doch sähe er gegen diese Bulldozer im Käfig wie ein Winzling aus.«
»Dann wären Lyndas Träume wahr geworden«, sagte Tree und dachte an die Entomologin aus Venezuela, die von einem Sturmadler getötet worden war. Trauer und Angst mischten sich in die in ihrem Magen rumorende Übelkeit. »Ich muss mich kurz hinsetzen«, sagte sie.
Sie ging in den Schatten eines Kapokbaumes und ließ sich auf eine der einen Meter hohen Wurzeln fallen. Mason setzte sich neben sie. K’un-Chien kniete vor Tree nieder und nahm ihre rechte Hand. Sie drückte in das muskuläre Gewebe zwischen Trees Daumen und Zeigefinger.
»Au«, entfuhr es Tree, doch sie zog ihre Hand nicht weg. K’un-Chien schenkte ihr ein liebevolles, entschuldigendes Lächeln.
»Gott, man sollte Medizinstudenten zu ihr schicken, damit sie lernen, wie man sich bei der Visite benimmt.«
Mason lächelte K’un-Chien an. »Ich finde, ihr Gesicht sieht aus wie einer von Raffaels Engeln. Wie einer von denen, die goldenes Licht verströmen.«
Ein Prickeln strömte die Nervenbahnen in Trees Arm hoch und hinunter in ihre Magengrube, und die Übelkeit begann abzuklingen.
»Erstaunlich«, sagte Tree.
»Man nennt es Doh-In«, sagte K’un-Chien.
Tree kannte den Ausdruck. Er bedeutete ›präzises Aufdrücken der Finger‹, wie Akupunktur ohne Nadeln. Nach wenigen Minuten war ihre Übelkeit verschwunden.
»Mein Vater brachte mich in Nanjing einmal zu einem Arzt, der Doh-In praktizierte«, sagte Tree und betrachtete den roten Punkt auf ihrer
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