Das Geheimnis am goldenen Fluß
der Poet.«
»Na schön«, sagte Mason. »Ich habe ein Gedicht für dich.« Er rezitierte:
Der Schmetterling naht
Im Wind gleitet er dahin
Fliegender Lotus
»Ahhh«, sagte Meng Po, »jetzt bin ich wieder dran.«
Hockend auf Blättern
Die Robe hochgezogen
Kackt der alte Mönch
»Wie ich höre, hast du einen Sinn für Humor«, sagte Mason und rezitierte:
Die Fähre ist voll
Passagiere riechen Furz
Nur ich weiß wessen
Meng Po kicherte. »Das ist lustig«, sagte er. »Manchmal erzählen mir die Wachen ihre Haikus, wenn ich lange genug bettele, aber ihre sind so schwach wie dreimal aufgegossener Tee.«
»Es macht mir immer Spaß, mit Worten zu spielen«, sagte Mason. »Aber ich war lange nicht so meisterhaft wie du, als ich in deinem Alter war.«
»Welch ein Kompliment aus dem Munde eines Poeten«, sagte Meng Po und verneigte den Kopf. »Nun würde ich gerne deiner Ersten Frau ein Gedicht vortragen.«
Tree lächelte und nickte. »Nur zu.«
Gewölbt die Brauen
Schleichen sich heimlich hinauf
In dein Haar aus Gold
»Oh, das mag ich«, sagte Tree. »Schön.«
Mason war verblüfft. »Hast du dir das gerade ausgedacht?«
Meng Po grinste. »Natürlich, genau wie all die anderen. Ein Haiku soll spontan entstehen.« Er hob eine feine schwarze Braue über einem mandelförmigen Auge. »Heißt das, deine Gedichte waren …?«
Mason wurde rot.
»Oh, ich verstehe«, sagte Meng Po stirnrunzelnd.
»Sieht aus, als hättest du den Haiku-Wettbewerb verloren, Mason«, sagte Tree.
Meng Pos Schultern bebten, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Ich habe dich auf den Arm genommen.«
»Dann hast du dir die Gedichte nicht gerade ausgedacht?«, fragte Mason.
»Doch, schon. Aber ich scherzte bloß, als ich vorgab, von dir enttäuscht zu sein. Obwohl du sie auswendig kanntest, finde ich deine Haikus recht gut – für einen Barbaren.« Er lächelte. »Erzähl mir bitte noch eins.« Er schloss die Augen und wartete.
Mason rezitierte:
Weit und leer der Strand
Ein Seestern liegt einsam da
und weist die Wege
»Ah. Das war bisher das Beste.« Meng Po schlug die Augen auf. »Ich mag Gedichte über Einsamkeit. Irgendwie machen sie mein Los erträglicher. Aber darf ich dir eine Frage stellen?«
»Du meinst, zwei Fragen. Eine hast du soeben gestellt.«
Meng Po lachte. »Ja. Zwei Fragen. Auch du verstehst zu scherzen.«
Mason nickte ihm aufmunternd zu. »Frag mich.«
»Was ist ein Seestern?«
»Ach so, ich vergaß, dass du nie am Meer gewesen bist.«
»Schwager«, sagte Meng Po und ließ den Blick über seine viereckige Welt gleiten, »ich habe diesen Käfig seit meinem fünften Lebensjahr nicht verlassen.«
Tree und Mason wechselten bestürzte Blicke. »Das war doch sicherlich nicht deine freie Wahl, oder?«, fragte sie.
»Einem Kind lässt man keine Wahl«, sagte Meng Po.
»Das ist sehr traurig«, sagte Tree.
»Wenn man die großen Poeten studiert, entdeckt man, dass Traurigkeit sie zu einigen der schönsten Haikus inspirierte«, sagte Meng Po. »Erlaube mir, ein Gedicht zu komponieren, um diesen Moment blühender Traurigkeit für die Ewigkeit festzuhalten.« Er schloss die Augen und strich liebevoll über Kikis Bart. Dann rezitierte er:
Welkende Rose Blüten in meinen Händen
auch die langsam welk
Mason nahm an, dass Meng Po nach dem Tod seiner Brüder wie ein Zootier eingesperrt worden war, um ihn vor Schaden zu bewahren, bis er das Mannesalter erreichte. Er wollte mit dem Jungen darüber sprechen, spürte aber, dass es ein heikles Thema war. Er mochte Meng Po. Er nahm sich vor, ihn bald wieder zu besuchen und mit ihm neue Haikus auszutauschen. Vielleicht konnte er von dem kostbaren Kind dann mehr über das Leben in Jou P’u T’uan erfahren.
Kiki gab einen Laut von sich, der wie der eines Kindes klang, das das Mandarin-Wort für Süßigkeiten auszusprechen versuchte – bingtang. Er hielt ihnen seine kleinen schwarzen Hände hin.
Mason wölbte die Augenbrauen. »Sagte er tatsächlich, was ich verstand?«
»O ja, er bettelt ständig nach Essen. Verfressener kleiner Buddha«, sagte Meng Po und kitzelte den Weisheitsaffen am Bauch.
»Bingtang«, sagte Kiki, »Bingtang, Bingtang.«
Trees Mund stand sperrangelweit offen.
»Das – ist unglaublich«, sagte Mason.
Meng Po runzelte die Stirn. »Dass er Süßigkeiten mag?«
»Dass er spricht!«, platzte es aus Tree heraus.
»Wie, Schim-pan-sen können nicht sprechen?«
Tree schüttelte den Kopf, die Augen fassungslos aufgerissen.
»Schimpansen fehlen
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