Das Geheimnis am goldenen Fluß
und wandte sich zu Tree um.
»So wie ich die Sache sehe, läuft deine Zeit langsam ab. Wenn der Zeiger kurz vor zwölf steht, wirst du zu mir kommen und mich bitten, dass ich dich ficke. Ich werde es mir dann überlegen. Wenn du mich anflehst oder mich bezahlst, würde …«
»Verschwinde!«, rief Tree.
Domino drehte sich um und ging.
K’un-Chien senkte den Bogen, und ihre Augen trafen Trees. Die junge Chinesin hatte jetzt nichts Schüchternes oder Sanftmütiges mehr an sich. Tree kam es vor, als schaue sie in helle, furchtlose Männeraugen.
Tree wandte sich von K’un-Chien ab und brach die machtvolle Strömung, die zwischen ihnen hin- und herwogte. Sie ließ sich auf den Rand des Sofas fallen und schlug schluchzend die Hände vors Gesicht.
Alles ging schief, und die Zeit verrann. Mason konnte nicht mit ihr schlafen. Domino – das Schwein – hatte Recht: Sie brauchte seine Hilfe, um schwanger zu werden. Und allem emotionalen Widerstand zum Trotz wurde ihre verstörende Vision einer sexuellen Verbindung mit K’un-Chien auf mysteriöse Weise allmählich wahr.
20
Mason kniete auf dem Holzboden und übte mit einem langen Pinsel Kalligraphieschwünge auf einer Seidenpapier-Schriftrolle.
»Exzellent«, sagte Meng Po. »Dubist ausgezeichnet für einen Anfänger.«
»Offen gestanden ist dies nicht mein erster Versuch, aber ich bin lange aus der Übung. Ich hatte einen Freund namens Gibraltar – Trees Bruder. Er brachte mir bei, wie man den Pinsel schwingt. Gib war ein wunderbarer Kalligraph und ein hervorragender Maler.«
»Zwei der Drei Perfektionen.«
»O ja, und ein ausgezeichneter Poet war er auch. Er war in allen dreien meisterhaft.«
»Ein Mann von höchster Qualität.«
Mason nickte und seufzte. »Mein bester Freund. Er starb in einem Krieg, in einem Land nicht weit von China.«
»Das tut mir Leid«, sagte Meng Po leise. »Es muss sein Karma gewesen sein.«
»Ja, wahrscheinlich. Karma. Seins und meins.«
Mason hatte die ganze Nacht wach gelegen und sich wegen seines Fehlschlags mit Tree gescholten. Er hatte gehofft, dass ein wenig Zeit allein mit Meng Po seinen Kopf frei machen würde, um wieder kreativ denken und einen Fluchtplan schmieden zu können. Er lächelte seinen kleinen Freund an. Die Gesellschaft des Jungen war beruhigend wie Balsam.
Meng Po träufelte ein Dutzend Wassertropfen in die flache Mulde eines Tintensteins, der die Form einer Lotusblüte hatte. Dann zerrieb er in der angenässten Mulde einen Tintenstab aus Pinienasche, Lampenruß und Tierleim, bis er klumpenfreie, pechschwarze Tinte angerührt hatte.
»Du und Tree seid bis nach Chung Kuo gereist, in das Reich der Mitte, die Heimat meiner Ahnen.« Er tauchte einen Pinsel mit einer feinen Menschenhaarborste in die glänzende Tinte. »Ich dagegen habe nie gesehen, was jenseits unseres Berges liegt.«
Mit einem flinken Tanz seines Pinsels malte er einen Bambushain auf die weiße Fläche, wobei er gemäß der traditionellen Reihenfolge vorging: Stämme, Knotenringe, Äste und Blätter. Meng Po hatte Mason erzählt, dass klassische Maler Schwarz als die wichtigste aller Farben betrachtet hätten und dass viele Landschaften ausschließlich mit schwarzer Tinte gemalt worden seien. Sein sich im Wind biegender Bambushain auf dem Seidenpapier wirkte lebendig und natürlich.
»Genau genommen bin ich nie in China gewesen«, sagte Mason. »Tree und Gib wuchsen dort auf, in einer Stadt, die Nanjing heißt. Dagegen fanden die meisten meiner Reisen nur in Büchern statt.«
»Da haben wir etwas gemein. Ich habe die Berichte der Hofhistoriker aller Dynastien gelesen, von Shang bis Ming. Ich las von ZHeng Hes Schatzflotte und ihren sieben Reisen und der großen Expedition unseres Gründers Ko T’ung Jen. Stammte er nicht aus Nanjing?«
»Ja, Trees Vater war von Ko T’ung Jen fasziniert. Er zog mit seinen Kindern aus einem Land namens England nach China, um in Nanjing die alten Aufzeichnungen zu studieren. Er war überzeugt, dass Ko in die Neue Welt gesegelt war und dort eine Kolonie gründete; doch seine Kollegen lachten ihn nur aus.«
»Ein Weiser sagte einmal: ›Das Problem liegt nicht darin, dass viele Menschen nichts wissen, sondern dass sie so vieles wissen, das nicht wahr ist.‹«
Masons Blick schweifte durch den Palastraum. »Ich bin sicher, dass die Besserwisser ziemlich sprachlos wären, wenn sie all die Dinge sähen, die es in dieser erstaunlichen Stadt zu entdecken gibt.«
»Zweifellos gibt es auch in deiner Welt
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