Das Geheimnis am goldenen Fluß
Dinge, die unseren Einwohnern die Sprache verschlagen würden.«
»Junger Gelehrter, darf ich dir eine Frage stellen, die einem Fremden wie mir eigentlich nicht zusteht?«
»Ja, du darfst mich alles fragen. Dann darf ich dich nämlich auch alles fragen, und es gibt eine Menge, das ich von dir lernen möchte.«
»Warum erlaubt man dir nicht, außerhalb dieses Käfigs zu leben?«
Meng Po seufzte und legte seinen Pinsel ab. Er strich über Kikis weißen Haarschopf und rutschte auf dem kleinen Sofa umher, das direkt hinter den Gitterstäben stand.
Mason spürte das Unbehagen des Jungen, doch er musste unbedingt verstehen, nach welchen Regeln diese Gesellschaft funktionierte. »Ich fragte K’un-Chien, doch sie sagte, sie könne es nicht ertragen, darüber zu sprechen.«
»May-Son, lass uns übereinkommen, dass wir unter uns über alles sprechen können, aber was wir besprechen, darf sich nicht verbreiten wie Tinte im Wasser.«
»Abgemacht, aber ich möchte um eine weitere Erlaubnis bitten – darf ich einem Freund berichten, worüber du und ich uns unterhalten?«
»Tree?«
Mason nickte. »Ich vertraue ihr, seit ich ein Junge war. Sie und ich müssen unsere Situation hier einschätzen.«
»In ihren Augen liegt tiefe Zuneigung, wenn sie dich ansieht«, sagte Meng Po. »Ich erlaube dir, ihr von unseren Gesprächen zu berichten – unter einer Bedingung.«
Mason nickte.
»Dass sie mich bald wieder besucht. Ich möchte wieder die Farbe ihres Haares bewundern; es ist aus dem Licht der aufgehenden Sonne gesponnen.«
»Sie wird ganz sicher kommen, wenn ich ihr erzähle, was du eben gesagt hast.«
Meng Po holte tief Luft. »Du wolltest wissen, weshalb ich isoliert in einem bewachten Käfig in einem bewachten Palast lebe. Die Antwort ist überaus traurig. Ich hatte einmal zwei ältere Brüder. Sie sind am selben schrecklichen Nachmittag gestorben, zusammen mit meinem Vater. Seit ihrem Tod gibt es in Jou P’u T’uan nur einen einzigen Mann.« Seine Augen wurden feucht. »Ich wünschte, dass nicht ich dieser Mann wäre.«
»Es tut mir Leid für deinen Verlust«, sagte Mason. »Und ich glaube, ich verstehe: Deine Brüder starben, und deswegen hält man dich in diesem Käfig gefangen, damit du keinen Schaden nimmst.«
»Ja. Ich war fünf, als sich die Tragödie ereignete. Am selben Tag ordnete die Kaiserin an, dass mir dieser Käfig gebaut werden solle. Hier drin kann kein Unheil über mich kommen, es sei denn, die Erde selbst verschlänge den ganzen Palast.«
Mason stieß einen leisen Pfiff aus. »Sechs Jahre.«
»Sechs Jahre, zwei Monde, zehn Sonnen«, sagte Meng Po. »Ich zähle die Tage mit meinem suan p’an.«
Kiki sprang vom Sofa und kehrte mit einem chinesischen Abakus zurück. Die farbigen Perlen waren in Einser-, Zehner-, Hunderter-, Tausender- und Zehntausender-Kolonnen aufgereiht. »Danke, Kiki, ich brauche das Rechenbrett jetzt nicht. Leg es bitte zurück.«
Fasziniert sah Mason zu, wie der Weisheitsaffe das suan p’an in die Schublade eines Mahagoni-Schreibtischs legte.
»Bald wird eine neue Mutter-von-Söhnen gewählt, die meine Mutter ersetzen wird. Später einmal, wenn ich das Mannesalter erreiche, werde ich selbst Kaiser werden. Ich werde die nächste Mutter-von-Söhnen heiraten und mit ihr so viele Söhne machen, wie wir können.«
»Verstehe.«
Stille trat ein. Mason war bestürzt über das schreckliche Los des Jungen. Es war traurig genug, seinen Vater und seine beiden älteren Brüder zu verlieren und anschließend das einzige männliche Wesen in einer ausschließlich weiblichen Gesellschaft zu sein. Doch als reichte das nicht, musste Meng Po seine Kindheit und Jugend eingesperrt in einem Käfig verbringen, darauf wartend, der alleinige Ehemann Hunderter von Frauen zu werden. Viele Männer mochten dies großartig finden, eine wahr gewordene Fantasie. Doch Fantasie und Realität waren zwei grundverschiedene Dinge. Das Alltagsleben würde früher oder später unerträglich werden – körperlich wie emotional. Sicher, eine Zeit lang konnte es ein aufregendes sexuelles Abenteuer sein, doch letztlich würden, dessen war sich Mason sicher, Einsamkeit und Langeweile über die Wollust obsiegen. Es ist unmöglich, als Mann zu glänzen, ohne unter seinesgleichen zu sein, ohne Brüder im Geiste wie im Fleische.
»Sag, Meng Po, was ist K’un-Chiens Geschichte? Vielleicht hat dies einen Fremden nicht zu interessieren, dennoch verfolgt mich die Frage – wie kam es dazu, dass eine so wunderbare
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