Das Geheimnis am goldenen Fluß
Unsterblichkeit durch einen perfekten menschlichen Körper – eben den heiligen Hermaphrodit. Ko T’ung Jens Lehre lehnte den Gedanken an einen unsterblichen Körper ab und strebte danach, die innere Seele zu läutern. Er stritt voller Leidenschaft mit denen, die die Ankunft des Lung-Hu erwarteten.«
»Unser Vater vertrat aus tiefer Überzeugung Ko T’ung Jens Lehre der Inneren Alchemie und versuchte, sie wieder aufleben zu lassen.«
»Ich bin verwirrt. Wie konnte ein Barbar so viel über die Lehre unseres Gründervaters wissen?«
»Unser Vater hatte sich intellektuell immer zum Reich der Mitte hingezogen gefühlt. Er unterrichtete sogar chinesische Geschichte und Kultur an einer großen Universität in seinem westlichen Land. Aber als seine Frau starb, wandte er sich mit einem drängenden spirituellen Hunger dem Osten zu. Er war auf ein seltenes Buch über Ko T’ung Jens Lehre gestoßen –«
»Das Sutra der Gelben Blume? Das habe ich gelesen.«
K’un-Chien nickte. »Vater war besessen davon, mehr über den Autor und seine Lehre zu erfahren. Im Zuge seiner Nachforschungen entdeckte er, dass Ko T’ung Jen heimlich eine Reise in die Neue Welt geplant hatte, mit Kolonisten, deren Wunsch die Gründung einer neuen Gesellschaft war. Vater reiste nach China, um in alten Aufzeichnungen der Dynastien nach Hinweisen auf Ko T’ung Jens Reise zu suchen. Später unternahm er zwei Expeditionen, um diese Kolonie zu finden, und bei der zweiten entdeckte er uns. Aber unsere Kultur folgte nicht mehr Ko T’ung Jens Lehre. Die Mutter-von-Söhnen und der Lung-Hu-Kult waren fast allmächtig geworden. Vater tat sein Bestes, um die ursprüngliche Lehre wieder aufleben zu lassen.«
»Mit anderen Worten, Vater arbeitete daran, den spirituellen Weg neu zu erschaffen, den er hier vorzufinden geglaubt hatte«, sagte Meng Po. »Erkennst du den karmischen Kreis? Aus Notwendigkeit wurde der Suchende zum Lehrer.«
»Ja, ich erkenne ihn. Und auch er sah ihn. Er glaubte, es sei seine Bestimmung, uns zur Lehre der Inneren Alchemie zurückzuführen. Er sagte, er wäre hergerufen worden, um uns vor einem falschen Weg zu erretten.«
»Aber warum ist der Weg falsch? Die Kaiserin lehrt uns, dass Lung-Hu unser Erlöser sei.«
»Ich kenne das Dogma: Lung-Hu wird ein Zeitalter von Menschen einleiten, die beide Geschlechter in sich vereinen, und uns dadurch aus unserer Abhängigkeit vom anderen Geschlecht befreien.«
»Wäre das keine gute Sache?«
»Das ist nur die exoterische Seite der Lehre; es gibt auch eine esoterische Seite, von der nur wenige gehört haben: Das wahre Motiv des Lung-Hu-Kultes ist körperliche Unsterblichkeit.«
Meng Po runzelte die Stirn. »Aber wie?«
»Gemäß der Lehre der Äußeren Alchemie entsteht durch die Vereinigung von Yin und Yang in einem Körper eine Lebensenergie, welche die Zellen unaufhörlich erneuert. Also obwohl die Kaiserin selbst dem Tod nicht entfliehen kann, glaubt sie, dass es ihr bestimmt sei, eine Rasse von Unsterblichen zu begründen.«
Meng Po sah seine Schwester mit großen Augen an. »Bist du …?«
»Unsterblich? Ich hoffe nicht. Nein. Aber in einem hatten die Äußeren Alchemisten Recht: In mir brodelt ein nie versiegender Energiestrom, als wäre mein Bauch ein Dampfkessel.«
»Oh, K’un-Chien – Lung-Hu. Ich wusste nie, mit wem ich es wirklich zu tun hatte. Vielleicht habe ich mich dir gegenüber zu zwanglos benommen, habe nicht genug Respekt gezeigt.«
»Fang damit gar nicht erst an. Wir sind beste Freunde. Ich bin K’un-Chien, wie immer. Nicht einmal in Gedanken solltest du mich als Lung-Hu sehen.«
»Muss ich aber. Mir wurde beigebracht, dass der Lung-Hu eine neue Art Mensch sei – mehr als ein Mensch, ein Gott.«
»Liebster Bruder, kam ich dir in all den Jahren, die du mich jetzt kennst, irgendwann einmal wie ein Gott vor?«
»Uh …«
»Glaub mir, ich bin ein Mensch. Hast du nicht gerade meine Tränen der Trauer und der Freude gesehen? Meine Hoffnungen und Ängste?«
Meng Po lächelte. »Du hast Recht. Du siehst nicht aus, als könntest du über den Wolken laufen.«
»Vergleiche die Ansichten der Kaiserin mit denen von Ko T’ung Jen und unserem Vater. Für sie war der Lung-Hu eine Schändlichkeit, eine Korruption der Natur. Sie meinten, eine Gesellschaft aus Hermaphroditen wäre eine Gesellschaft, die aus Monstern besteht.« K’un-Chiens Züge verdüsterten sich. »Vater erzählte mir einmal, dass er am Tag meiner Geburt die ganze Nacht wach geblieben sei
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