Das Geheimnis am goldenen Fluß
anderes es je erfahren dürfe.«
Meng Po runzelte die Stirn. »Was könnte es nur sein, dass es solcher Heimlichkeit bedarf?«
K’un-Chien biss sich auf die Zähne.
Meng Po baute sich in voller Größe vor ihr auf. »Als dein zukünftiger Kaiser befehle ich dir, es mir zu verraten«, sprach er mit seiner tiefsten Stimme. »Meine Autorität wiegt schwerer als das Versprechen, das du unserem Vater gegeben hast. Um deiner selbst willen, offenbare, was du vor mir verbirgst.«
K’un-Chien schluckte beklommen.
Meng Pos Züge wurden weich, und er lächelte sie mitfühlend an. »Deine Einsamkeit muss immens sein … In meiner eigenen Isolation ist deine Liebe mein einziger Trost.« Er küsste Kikis weiches schwarzes Gesicht. »Deine Liebe und seine. Verrate mir dein Geheimnis, Schwester. Ich werde alles tun, um dein Karma erträglicher zu machen und dir die Schritte deines Weges zu erleichtern.«
»Die Güte eines Bruders macht meine Schritte so leicht, als liefe ich knöcheltief durch Kirschblüten, und doch kannst du nichts tun, um mein Karma erträglicher zu machen. Trotzdem werde ich es dir verraten – und den Ahnen dafür danken, mich von meinem Schweigegelübde entbunden zu haben.«
Sie warf einen Blick auf die Wachen im Raum. Die Drachenfrauen beachteten sie nicht, aber jede hatte ein Schwert, einen Bogen und eine Lanze. K’un-Chien beugte sich dichter zu ihrem Bruder und er zu ihr. Sie machte eine Pause und holte tief Luft.
»Ich bin Lung-Hu«, flüsterte sie. »Ich bin der Drachentiger. Ich, Hsiang K’un-Chien, bin der Heilige Hermaphrodit.«
Meng Po riss die Augen auf. »Ist das möglich?«
K’un-Chien schaute wieder zu den Wachen. »Hol deine Decke.« Er ging zu seinem Futon und kam mit einer bestickten Decke zurück. Sie nahm ein Ende. »Halt dein Ende fest«, sagte sie und hob die Decke hinter ihrem Körper, so dass sie wie hinter einem Wandschirm stand. Mit der freien Hand öffnete sie eine Stofffalte in ihrem Sarong und entblößte ihren nackten Körper unterhalb der Taille.
Sie hatte ein weibliches Geschlechtsorgan, darüber ein männliches.
K’un-Chien hüllte ihre Blöße wieder in den Sarong. Meng Po ließ die Decke fallen und wollte sich auf den Knien vor ihr verneigen.
»Bitte nicht.« K’un-Chien ergriff seinen Arm. »Keine Rituale zwischen uns.«
»Was treibt ihr beiden da?«, fragte eine der Wachen.
Meng Po funkelte die Frau an. »Kümmere dich in deiner Langeweile um was du willst, aber lass deinem zukünftigen Kaiser das bisschen Privatsphäre, das er in einem Käfig haben kann.«
»Natürlich, Hoheit, verzeiht mir«, sagte die Wache und sah fort.
K’un-Chien hielt den Atem an. Sie hatte sich in ihrem Leben nie verletzlicher gefühlt, als wäre sie ein durchsichti ges Wesen – ein Glasfisch. Ich würde es nicht aushalten, wenn er mich fortan zurückwiese.
Meng Po schaute ihr in die Augen und hielt seinen Blick auf sie gerichtet. Nach einem Moment rezitierte er:
Edler Pflaumenwein
Ob aus Becher oder Kelch
Mundet vortrefflich
K’un-Chien wagte es, wieder Luft zu holen, und griff sich ans Herz.
»Es macht keinen fundamentalen Unterschied für mich«, sagte Meng Po, »du bist noch immer der Mensch, den ich liebe.«
Oh, gelobt seien die Ahnen. »Danke, liebster Bruder.« Dieses Mal kämpfte sie nicht gegen die Tränen. Sie hielten sich lange Zeit in den Armen, so gut es durch die Gitterstäbe ging.
»Warum bestand Vater darauf, dass du es geheim hältst?«, frag te Meng Po schließlich. »Die Kaiserin wartet noch immer auf die Ankunft des Lung-Hu, so wie alle anderen auch. Wieso bist du nicht vorgetreten und hast Mutter als unsere Herrscherin ersetzt?«
»Alle erwarten Lung-Hus Ankunft«, sagte sie, »doch nicht alle sehen dem mit Freude entgegen. Einige finden den Gedanken an ein Mann-Frau-Wesen widerwärtig, ja sogar böse. Aber weil die Mutter-von-Söhnen und ihr Kult so viel Macht haben, behalten die anderen ihre Ablehnung für sich. Vater zum Beispiel lehnte das ganze Getue um den Drachentiger strikt ab.«
»Das hat er mir nie gesagt.«
»Bespricht ein Erwachsener solche Dinge mit einem Fünfjährigen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Es gab hier noch eine andere Denkrichtung, bevor der Lung-Hu-Kult dominant wurde. Du hast in Ko T’ung Jens Aufzeichnungen sicherlich über die Debatte der Zwei Lehren gelesen.«
»Ja. Ko T’ung Jen stellte eindeutig klar, was er befürwortete«, sagte Meng Po. »Die Lehre der Äußeren Alchemie strebt nach körperlicher
Weitere Kostenlose Bücher