Das Geheimnis am goldenen Fluß
auf die Heimreise begeben.‹
Die Meisterin hob einen knochigen Finger. ›Wartet‹, sagte sie mit einem schwachen Flüstern. ›Ihr seid just in der Stunde meines Todes gekommen. Die Priesterin wollte mit ihrer Fackel gerade die Begräbnis-Räucherkerzen entzünden, als der Gong ertönte. Aber vielleicht verbleibt mir noch genügend Zeit, um einen letzten Schüler zu unterweisen.‹ Sie machte eine Pause. ›Welche von euch beiden ist dafür qualifiziert?‹
Die Schwestern schauten sich an und reckten beide ihre Brust ein wenig vor. Die Ältere hob den Arm und deutete über den Fluss auf einen schwarzen Punkt an einem weißen Kreidefelsen. ›Die Krähe auf dem Felsen dort‹, sagte sie. ›Ich werde versuchen, sie zu treffen.‹ Sie klemmte ihren Bogen zwischen die Fußknöchel, bog das obere Ende hinunter und bespannte ihn mit einer frischen Sehne. Dann legte sie einen Pfeil an die Sehne, hob den Bogen in steilem Winkel nach oben und zog die Sehne zurück, bis der Bogen einen Halbmond bildete.
›Nenn mir alles, was du siehst‹, sagte die alte Meisterin.
›Ich sehe einen rauen Kalksteinfelsen‹, sagte die ältere Schwester. ›An seinen Seiten stehen windschiefe Pinien; auf einem Felsvorsprung über den Pinien hockt ein Krähenschwarm; ganz oben auf dem Felsen sitzt eine große einzelne Krähe.‹
›Lass deinen Pfeil fliegen‹, sprach die Meisterin. Die ältere Schwester schoss den Pfeil ab; er flog in hohem Bogen über den Fluss und traf einen der knorrigen Pinienstämme.
›Mit deiner Erlaubnis, Ältere Schwester, möchte ich nun mein Geschick demonstrieren‹, sagte die jüngere Kriegerin.
›Selbstverständlich. Gib dein Bestes. Und beeil dich, denn dein potenzieller Lehrer schwindet schnell dahin.‹ Tatsächlich röchelte die alte Meisterin inzwischen mehr, denn dass sie atmete. Die jüngere Schwester bespannte ihren Bogen, legte einen Pfeil an die Sehne und zog sie ans Kinn zurück.
›Nenn mir alles, was du siehst‹, flüsterte die Meisterin.
›Ich sehe nur die einzelne Krähe. Fett und glänzend, bläulich-schwarz. Ich sehe ihr großes rotes Auge mit einer schwarzen Pupille.‹
›Lass deinen Pfeil fliegen.‹
Die jüngere Schwester schoss ihren Pfeil ab; er flog in hohem Bogen über den Fluss, prallte zu Füßen der Krähe gegen den Kalksteinfelsen und fiel hinunter. Die Krähe kreischte und bauschte entrüstet ihre Federn.
›Gib mir deinen Bogen‹, befahl die Meisterin. Die jüngere Schwester gab der greisen Gestalt ihren Bogen. ›Helft mir auf die Beine‹, sagte die Frau zu ihren Dienern. Sie halfen ihr auf die Beine und stützten sie.
›Kriegerinnen, helft mir, die Sehne zurückzuziehen‹, sagte sie zu den beiden Schwestern. Eine half ihr, den Bogen zu halten, die andere, die Sehne zurückzuziehen, während die Meisterin den Pfeil auf sein Ziel richtete.
›Lass ihn fliegen!‹
Der Pfeil flog in hohem Bogen über den Fluß und durchbohrte das Auge der Krähe.
›Meisterin‹, riefen die Schwestern verblüfft. ›Wie konntet Ihr die Krähe aus dieser Entfernung überhaupt sehen?‹
›Krähe? Welche Krähe?‹; fragte die alte Frau. ›Ich sah nur einen großen roten Kreis mit einem schwarzen Punkt in der Mitte.‹«
K’un-Chien lächelte und verneigte sich vor Meng Po. Er legte die Handflächen aneinander und verneigte sich seinerseits.
»Eine exzellente Fabel«, sagte er. »Konzentration ist der Schlüssel.« Er stand auf, legte einen Pfeil an die Sehne, zog ihn zurück und zielte mit ruhigem Blick, dann schoss er. Der Pfeil sauste den Bruchteil eines Zentimeters über die Wirbelsäule des Ziels hinweg und prallte an die Wand.
»Siehst du?«, sagte K’un-Chien. »Das war schon viel besser.«
»Wenn Wildschweine doch nur Monsun-Stiefel trügen, was? Wäre es einen Fingerbreit größer, würde ich mich heute Abend an Strohschinken laben.«
K’un-Chien lachte. Sie schaute ihren Bruder an; er hatte die gelben Satinärmel auf seinen dünnen Armen hochgerollt. »Ich liebe dich, Meng Po – die Art, wie du mich zum Lachen bringst. Ich bin froh, dass ich dich besucht habe.«
»Ein Freund merkt, wenn einem Freund etwas auf der Seele lastet«, sagte Meng Po. »Möchtest du darüber reden?«
K’un-Chien wich seinem Blick aus.
»Hat es etwas mit unseren faszinierenden Gästen zu tun?«
Sie nickte, schloss die Augen und kniff die Lippen zusammen, um ihre Tränen zurückzuhalten. Doch selbst mit angehaltenem Atem konnte sie ihre Traurigkeit nicht in sich halten. Die
Weitere Kostenlose Bücher