Das Geheimnis am goldenen Fluß
Schutzwälle um ihr Herz brachen, und heiße Tränen rannen ihr übers Gesicht.
Kiki schob einen Arm durch die Gitterstäbe und strich K’un-Chien über die Haare. Sie nahm seine warmen schwarzen Finger und schluchzte leise vor sich hin. Meng Po legte seiner Schwester eine Hand auf die muskulöse Schulter. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte er sanft.
Sie schüttelte den Kopf und stieß einen schmerzerfüllten Klagelaut aus. So viele Jahre hatte sie ihr Herz mit einem eisernen Panzer umgeben, um es vor dem Schmerz zu schützen. Nun war der Panzer mürbe und brüchig geworden.
»Vergib mir meine Schwäche«, sagte sie schnaufend. »Ich bin ein willenloser Feigling.«
»Du bist der tapferste, stärkste und klügste Mensch, den ich kenne. Ich bin froh, eine so wunderbare Schwester zu haben.«
Sie sah die Güte in seinen Augen und weinte umso heftiger; sein Satingewand verschwamm zu einem gelben Fleck. Durch das Weinen fühlte sie sich befreit von der Schwere der Jahre, in denen sie ihre Gefühle unterdrückt hatte. Sie spürte, dass, wenn sie sich jetzt völlig gehen ließ, sie den Grenzen ihres Körpers entsteigen und in einem Tränenmeer fortgetrieben und sterben würde. Doch sie kämpfte gegen die Tränen an, indem sie tief Luft holte und langsam ausatmete, ein und aus, bis sie sich schließlich zu beruhigen begann.
»Ich … Ich glaube, May-Son und Tree wollen fliehen«, sagte sie.
»Sie glauben, sie könnten in der Oberhölle überleben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich erzählte Tree von dem Tunnel, der in den Dschungel hinunterführt.«
»Aber die Kopfjäger, die Drachen – hast du sie gewarnt?«
»Sie wissen von den Kopfjägern. Sie sind gewillt, das Risiko einzugehen. Ich habe ihnen noch nicht gesagt, dass der Einstieg von Drachen bewacht wird, aber ich glaube nicht, dass sie das stoppen wird. Oh, Kleiner Bruder, ich habe mich verliebt, und es tut so weh.«
»Ich bin nicht sicher, dass ich verstehe. Liebst du deinen Mann? Wo liegt das Problem? Begleite ihn.«
»Aber ich möchte dich nicht verlassen.«
»Deine Loyalität ist kostbarer als ein Berg aus Jade. Aber ich möchte, dass du mit dem Mann gehst, den du liebst. Das ist ein Befehl als dein zukünftiger Kaiser. Außerdem wird dein Mann dir dasselbe befehlen.«
»Es ist viel komplizierter, als du denkst. Ich liebe auch – Tree.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ist doch normal, oder?«
»Nicht in ihrer Kultur. Ganz und gar nicht.«
»Hat sie dir das erzählt?«
K’un-Chien schüttelte den Kopf. »Ich hatte Angst, mit ihr darüber zu reden. Aber ich sehe es in ihrem Gesicht und in ihren Augen, an der Art, wie sie Frauen anschaut, die sich umarmen und küssen, und daran, wie abweisend sie sich mir gegenüber verhält. Außerdem hat mir Vater alles über seine Welt erzählt. In der Welt, aus der er kam, bilden Männer die Hälfte der Bevölkerung. Dort besteht kein Grund, dass Frauen Frauen heiraten müssen.«
»Wie sonderbar es sein muss, jeden Tag Paare aus Männern und Frauen zu sehen, so alltäglich, als sähe man in den Bäumen sitzende Papageienpärchen.«
»Vater lehrte mich, dass dies der natürliche Zustand sei. Das Tao, zu dem zurückzukehren wir streben sollten.«
»Schwester, darf ich offen reden?«
»Mit mir immer.«
»Obwohl du mit dem Mond blutest, erkenne ich in dir viele Eigenschaften einer Drachenfrau. Nimm zum Beispiel deine Meis terschaft im Bogenschießen – selbst General Yu Lin ist dir nicht ebenbürtig. Deswegen glaube ich, dass du und Tree einen Drachen-Tiger-Bund eingehen könntet, der durch die Polarität des Yin-Yang gesegnet ist.«
K’un-Chien seufzte und schüttelte den Kopf. Wie kann er mein Dilemma verstehen, ohne mein Geheimnis zu kennen?
»Bitte sag mir, was dich bedrückt, K’un-Chien.«
»Wie sehr ich wünschte, es dir offenbaren zu können.«
»Du hast mir dieses Geheimnis nie verraten. Dein großes Mysterium. Und ich habe nie danach gefragt, weil ich wusste, wie wichtig es dir ist, es für dich zu behalten. Aber ich beobachte nun schon seit geraumer Zeit, dass dein Geheimnis dich zerstört. Es zerfrisst dich wie ein Seidenwurm ein Maulbeerblatt. Ich glaube, du musst es jemandem erzählen. Genau genommen bestehe ich darauf, dass du mir dein Geheimnis verrätst, damit ich deine Last mit dir teilen kann.«
»Aber ich versprach Vater, es niemandem zu erzählen. Nur er und seine Hebamme, Zu Chou, wussten es. Seit frühester Kindheit hat er mich immer wieder ermahnt, dass niemand
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