Das Geheimnis der 100 Pforten
atmend, schritt er schnurstracks auf das Fach zu, nahm das Ende des Seiles, bemerkte nicht, dass das Fach offen stand, obwohl er es geschlossen zurückgelassen hatte, und kroch hinein.
Er hatte keine Ahnung, worauf er zukroch, darum
schob er sein Gesicht Zentimeter um Zentimeter voran und wartete darauf, dass etwas sichtbar wurde. Dieses Etwas war ein Steinboden, der sich unter seinen Händen kalt anfühlte.
Zu beiden Seiten ragten dicht neben ihm Steinwände auf. Ein Holzbogen verband die beiden Seiten, ein Bogen, an dem ein schwerer schwarzer Vorhang hing. Henry schob sich auf die Knie und sah sich um. Der gesamte Ort hatte etwa die Größe einer Kammer. Die Wände standen nicht weiter als einen guten Meter auseinander, der Vorhang befand sich knapp zwei Meter von der Rückseite entfernt. Nur oberhalb des Vorhangs und darunter konnte man einen Lichtstreifen erkennen. Es war ein kaltes weißes Licht, aber immerhin Helligkeit.
Henry stand auf, trat an den Vorhang heran, der sich zu beiden Seiten an den Steinwänden bauschte, und versuchte dahinterzusehen. Er hakte einen Finger hinter den Rand und zog den Stoff einen Spaltbreit beiseite.
Er sah den Mond. Das war zunächst einmal alles. Sein großes weißes Gesicht schien durch ein Fenster, das hoch oben in einer Wand eingelassen war. Henry wusste nicht, dass das Fenster dazu geschaffen worden war, das Licht des Mondes - an nur einem Tag des Jahres und genau in der Mitte der Nacht - auf den dunklen Vorhang zu werfen, der vor Henry hing. Er bemerkte nicht, zumindest nicht im ersten Moment, dass der Mond
den schwarzen Vorhang beschien, und sonst so gut wie gar nichts. Also zog er den Vorhang weiter beiseite und blickte in den Raum.
Ein mächtiger Gong erfüllte die Kammer und ließ Henry erzittern. Etwas stieß ihn von hinten. Er machte einen Satz nach vorn, trat sich auf den eigenen Fuß, stolperte und stürzte über den Vorhang und zu Boden. Sein Messer ließ er dabei fallen.
»Dieser Weg«, sagte eine brüchige Stimme, »war viele Jahre lang verschlossen.«
Das Echo des Gongs hallte noch immer im Raum. Henry schwieg. Er stand nicht auf, sah sich aber nach der Stimme um und tastete mit der Hand über den Steinboden nach seinem Messer.
»Nenne deinen Namen!«, sagte die Stimme.
Henry antwortete nicht. Seine Hand umfasste den Messergriff. Er wandte sich in die Richtung, aus der er die Stimme zu hören glaubte, stieß sich vom Boden ab und stand auf.
»Nenne deinen Namen!«, sagte die Stimme noch einmal.
Dieses Mal antwortete Henry. »Das kann ich nicht.«
Die Stimme lachte und sagte etwas, das Henry nicht verstand. Die Laute ließen sein Blut gefrieren und seine Wangen heiß werden.
Mit einem Mal erwachte der Raum zum Leben. Fackeln
und Feuerschalen an den Wänden rundherum flammten auf.
Henry blinzelte. Der Raum war oval. An einem Ende führten einige Stufen in einen Saal hinunter. An der anderen Seite befand sich ein glänzendes schwarzes Podest. Es war quadratisch, mit scharfen Kanten und ohne jegliche Rundungen. Auf dem Podest stand, aus demselben Stein gehauen, ein ebenfalls quadratischer Sitz, der Armlehnen besaß, aber keine Rückenlehne. Auf ihm saß ein zerknittertes Stoffbündel.
Schwarze Vorhänge wie der, durch den Henry gekommen war, hingen in Abständen von Bögen herab und säumten die Wände rundum. Dazwischen befanden sich Ständer, die wirkten, als sollten sie anstatt der Feuerschalen lieber künstliche Farne tragen.
»Wenn dir der Sinn also nach Wortklaubereien steht«, sagte die Stimme. »Welchen Namen hat man dir gegeben?«
»York«, antwortete Henry.
»Dies hier ist kein Platz für Lügen.« Das Bündel auf dem Thron nahm Gestalt an. Es streckte sich, wurde größer und beugte sich vor. Ein alter Mann, in schwarzes Tuch gehüllt, sah Henry durchdringend an. Ein langer weißer Bart wuchs von der Spitze seines Kinns herab und verdeckte seinen dicken Hals. Sein Haar war straff zusammengebunden. Abgesehen von seinem Kopf, war
der Mann klein. Seine Augen starrten Henry unverwandt an. »Du heißt nicht York«, sagte er leise.
Henry trat von einem Fuß auf den anderen. »Mein Vater ist Phillip Louis York«, sagte er.
»Dein Vater hat niemals den Namen York getragen. Ich habe ihn schon hier gesehen. Niemand sonst kam jemals ungebeten.« Der Mann hielt in seiner linken Hand einen glatten Holzstab. Seine rechte hing über die Armlehne seines Sitzes in eine Schüssel herab. Er hob etwas heraus, das weiß war und sich bewegte, und hielt es
Weitere Kostenlose Bücher