Das Geheimnis der Äbtissin
genug zu schweigen.
Beringar kicherte leise und nahm sich ein Stück Pastete. »Nicht umsonst heißt es: Bevor der Kaiser die Bänder gelöst hat, ist sein Kanzler schon aus den Beinlingen gestiegen.«
»Sei still!« Erschrocken sah sich Judith um, doch die Umsitzenden konzentrierten sich auf den Streit zwischen den hohen Herren.
Erstaunt hörte sie, wie Beatrix das Wort ergriff. »Ihr habt sicher recht, Hochwürden, doch nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, nützt kein Deckel mehr.«
Der Erzbischof nickte mit bitterer Miene und winkte mit seinem leeren Weinkrug nach einem Mönch. Auch sein Gesicht war tiefrot gefärbt. »Dann erklärt mir doch bitte, warum von Dassel zum Dank auch noch die Gebeine der Heiligen Drei Könige nach Köln schleppen durfte?« Er stierte auf seinen Krug, der gerade aufgefüllt wurde. »Mit diesen Reliquien hat er endgültig seinen Reibach gemacht. Was für eine Schatzgrube für eine so armselige Stadt!« Als müsste er seinen Kummer ertränken, nahm er einen großen Schluck von dem frischen Wein. »Diese widerliche Ratte nagt an den Säulen des Reiches, und Ihr, Hoheit, liebkost sie dafür.«
Judith hielt den Atem an, genau wie die anderen Tischgäste auch. Welcher Teufel ritt den Erzbischof, sich um Amt und Würden zu reden?
»Habt Ihr denn geglaubt, einer Stadt wie Mainz gebührt die Ehre dieser hochheiligen Reliquien? Sollen Bürger vor diesem Schrein beten, die ihren Erzbischof erschlagen haben?« Der Kaiser fragte es ruhig, doch seine Stimme hatte einen gefährlichen Unterton.
»Natürlich nicht.« Der Erzbischof klang resigniert. »Ihr solltet es sehen, das einst so stolze Mainz. Die Stadtmauer – kein Stein steht mehr auf dem anderen. Die Stadt ist offen für Diebe, Räuber, Hunde und Wölfe.«
»Genau das war auch meine Absicht!«, schnappte Friedrich. »Diese Stadt wird mir nicht mehr in die Quere kommen.« Er griff nach seinem Pokal und hob ihn in die Runde. »Doch nun lasst uns diesen erbärmlichen Disput vergessen. Wir sind hier, um zu feiern. Auf diese wunderbare Kirche, ein wahrhaft gelungenes Werk unseres Meisters Bischof Konrad!«
»Auf die Kirche!«
»Auf Bischof Konrad!«
Erleichtert nahm die Gesellschaft das glimpfliche Ende des Streites zur Kenntnis und prostete sich zu.
Judith nutzte die Gelegenheit, um zu den Abortgruben zu gehen. Auf dem Rückweg kam ihr Beatrix in Begleitung einer Dienerin entgegen. Sie blieb stehen und verneigte sich.
Beatrix musterte ihren Habit. »Schwester Judith! Bist du glücklich mit deinem neuen Leben?«
Diese Frage überraschte Judith. Sie wusste keine eindeutige Antwort darauf. Nach kurzem Zögern entgegnete sie: »Ich habe eine Aufgabe gefunden, die mich ausfüllt.«
»Bedeutet das bereits Glück?«, fragte Beatrix leise und blickte sie ernst an.
Für einen Moment sah Judith ein paar leidenschaftlich glühende schwarze Augen über sich, dahinter einen Falken am blauen Himmel. Ein Schmerz zog durch ihr Herz, der sie beinahe aufstöhnen ließ. Ausweichend antwortete sie: »Ich glaube, das hängt davon ab, was man vom Leben erwartet, Hoheit!«
Beatrix nickte, als wäre sie mit dieser Antwort hochzufrieden. Als sie sich anschickte, weiterzugehen, ergriff Judith erneut das Wort.
»Hoheit, erlaubt mir die Bemerkung: Ihr seht krank aus! Wenn Ihr Hilfe benötigt …«
Beatrix zögerte, doch ihre Hand winkte ab. »Ich komme zurecht, danke für deine Sorge.« Hastig lief sie hinüber zum geheimen Ort. Die Dienerin folgte ihr beflissen.
Schulterzuckend ging Judith zurück. Die Sonne hatte den Zenit überschritten und senkte sich über Lare allmählich gen Westen. Ob es jemandem auffallen würde, wenn sie jetzt aufbrechen würde? Sie könnte nach den neuen Pferden sehen, von denen Swen … Quatsch, unterbrach sie ihre Überlegungen und schüttelte halb belustigt, halb ärgerlich den Kopf. Natürlich ließ der Gedanke an Silas ihr keine Ruhe. Alles in ihr fieberte danach, ihn zu sehen.
Vom Kreuzgang her, wo die Männer noch immer tafelten, drangen plötzlich aufgeregte Worte an ihr Ohr. Jemand rief laut, andere fielen ein. Stritten der Kaiser und der Erzbischof schon wieder? Doch irgendwie klang es anders. Plötzlich hörte sie deutlich ihren Namen. Sie riefen nach ihr.
Ungläubig beschleunigte sie ihre Schritte. Als sie um die Mauerecke trat, hörte sie Beringar: »Da ist sie, Hoheit! Meine Schwester!«
Die Männer am Tisch waren zum Teil aufgestanden und redeten durcheinander. Sie schnappte Worte wie »verdorbenes
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