Das Geheimnis der Äbtissin
gesehen. Es war schlanker und eleganter als die derben Schlachtrösser der Ritter. Seine Mähne fiel leicht über den gebogenen Hals, seine Brust war schmal und glänzte wie geölt. Kein einziges weißes Zeichen konnte sie entdecken, das Tier war so schwarz wie die Augen seines Herrn. Nervös tänzelte es auf vier langen Beinen, dünn wie die Lanzen, mit denen ihr Vater auf Wildschweinjagd ging. Es schnaubte leise und schüttelte seine Mähne, dann stupste es dem Mauren mit weichen Nüstern ins Gesicht und brachte ihn dazu, sich umzudrehen.
»Oh, wir haben Besuch«, murmelte er dem Pferd zu und warf ihm eine Decke mit seltsamen bunten Mustern über den Rücken.
»Silas, wir reiten zum Straußberg«, platzte Judith heraus. »Wir werden Sigena holen.«
Er sah sie fragend an. »Weiß Euer Vater davon?«
Sie nickte heftig und sah sich nach einem Stallknecht um. »Wir können sofort los, ich lasse nur noch mein Pferd satteln.«
Als sie ihre Tiere aus dem Stall führten, kam Isabella durch das innere Tor gerannt. »Wartet, ich komme mit.« Als sie schließlich ihren Falben neben Judiths braune Stute lenkte, fragte sie atemlos: »Warum hast du mir nichts gesagt? Hast du gedacht, ich spiele die Kinderfrau für diese Beatrix?« Wie ein Knecht spuckte sie seitlich ins Gras.
Judith schwieg wohlweislich. Sie hatte tatsächlich gehofft, Isabella würde Gerlind unterstützen, wobei ihr jetzt klarwurde, wie abwegig dieser Gedanke gewesen war. Das Mädchen neben ihr schüttelte wütend seine Locken. Sie nahmen den Weg durch den schattigen Hochwald. Angenehme Kühle ließ die Pferde weit ausgreifen. Zwei Soldaten mit leichter Panzerung begleiteten sie.
In der frühen Mittagssonne leuchteten bald die Mauern der Straußberger Burg zwischen den Blättern der Buchen. Die Wachen an der Brücke erkannten sie sofort und ließen sie ohne Fragen passieren. Eine Magd brachte sie in die Küche, wo ihre Tante aus frischen grünen Pflanzen Sträuße band. Unter der gewölbten Decke baumelten Dutzende von trockenen Büscheln und füllten den Raum mit verwirrend vielen bitteren, würzigen und süßlichen Gerüchen. Silas starrte interessiert hinauf, während Sigena Isabella und Judith in die Arme schloss.
»Was führt euch her? Ist jemand krank?« Besorgt strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Noch immer fiel ihr schwarzes Haar in losen Wellen über den Rücken. Sie trug es wie eine Jungfrau, kein Gebände verdeckte die Pracht. Nur wer genau hinsah, entdeckte einige graue Streifen, die trockenen Grashalmen auf einer Wiese glichen. »Es ist Ludwig, nicht wahr? Ich habe von ihm geträumt letzte Nacht.«
Judith nickte. »Ja. Er ist gestürzt. Die Treppe im Bergfried …«
»Ich komme gleich mit. Ich hätte heute früh sofort losreiten sollen. Noch nie haben mich meine Träume belogen.« Eilig raffte sie die Pflanzen zusammen.
»Ihm ist bereits geholfen.« Die ruhige Stimme des jungen Mannes, von dem sie wohl glaubte, er sei ein Diener, ließ sie innehalten. Aufmerksam betrachtete sie ihn, und ihr Blick glitt erstaunt über seine fremdartige Kleidung.
»Das ist Silas.« Judith beeilte sich, die versäumte Vorstellung nachzuholen. »Er ist der Arzt des Kaisers.«
Sigena nickte. »Sie sind also zurück. Auch das verriet mir mein Traum.«
»Sie kamen, als die Sonne bereits über dem Reinhardtsberg stand. Alle sind wohlbehalten zurückgekehrt. Doch dann stürzte Ludwig, aber Silas hat ihn versorgt«, erklärte Isabella.
»Was ist mit seinem Bein?« Sie sah den Mauren direkt an.
»Ein komplizierter Bruch, Herrin. Ich habe den Knochen gerichtet und die Wunde vernäht. Es dürfte keine Probleme geben.«
»Ich habe ihm dabei geholfen!«, rief Judith stolz dazwischen.
»Ja?«, fragte Sigena versonnen und strich ihr übers Haar. »Es könnte sein, dass du …« Sie brach ab und heftete ihren Blick wieder auf Silas. »Was verschweigst du mir?«
»Der Junge ist beim Sturz mit dem Kopf aufgeschlagen. Er hat Schmerzen. Ich glaube jedoch nicht, dass der Schädelknochen verletzt ist. Trotzdem …«
»Du denkst an eine Schwellung des Gehirns?«
»Ja.«
»Was gibst du ihm gegen die Schmerzen?«
Judith redete erneut dazwischen: »Wir geben ihm Hundszunge. Aber wir brauchen die frischen Blätter. Wir hoffen, du kannst uns helfen.« Sie sah sich suchend unter der Decke um.
Sigena zog die Stirn kraus. »Hundszunge? Was soll das sein?«
»Die Blätter sehen aus wie die Zunge eines Hundes.«
»Da fallen mir auf Anhieb viele Pflanzen ein,
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