Das Geheimnis der Äbtissin
zu.
»… um jeden Preis?«, beendete Beatrix ihre Frage.
»Nein, natürlich nicht. Doch seht, wie groß unser Reich ist. Durch seine Heirat mit Euch hat er ganz Burgund erhalten. Was bedeutet da schon Österreich?«
Die Auseinandersetzung wurde jäh unterbrochen, als die Tür des Palas aufflog und der Narr Karol seinen Kopf hereinsteckte. »Jungfer Judith, schnell! Der Heiler Silas verlangt nach Euch!«
»Was fällt ihm ein? Es ist Unterricht!«, rief der Bischof entrüstet.
»Es ist ein Notfall, hochwürdentlicher Herr Bischof! Da kann man nichts machen!« Karol zwinkerte, eine Angewohnheit, die er auch in ernsten Situationen nicht lassen konnte. Judith war bereits an der Tür. Isabella wollte ihr folgen, doch ein scharfes Wort von Konrad hielt sie zurück.
Zusammen mit Karol lief Judith über den Hof. Der Narr hopste mit seinen kurzen Beinen neben ihr her und erklärte ihr in abgerissenen Sätzen: »Ein Bauernjunge … sein Vater brachte ihn. Ein Wolf …« Er japste.
»Wo ist er?«, fragte sie knapp.
»Im Stall!«
Sie rannte los. Karol blieb schnaufend zurück.
Vor der Futterkammer drängten sich einige Knechte und reckten die Hälse. Drinnen lag ein Junge auf dem Tisch. Silas blickte nicht auf, als sie sich außer Atem an den Männern vorbeischob. Sein krummes Messer glitt durch den groben Stoff eines zerfetzten Hemdes. Der Junge war nicht älter als sie. Aus seinem schmutzigen Gesicht starrten sie zwei große hellblaue Augen an. Er wimmerte leise vor sich hin. Neben ihm trat ein Bauer händeringend von einem Bein aufs andere. In seinem Blick stand eine einzige Bitte: »Helft!«
Judith ging an ihm vorbei und roch die Angst, die aus seinen Poren strömte.
»Heißes Wasser!«, sagte Silas tonlos. »Schickt einen Pferdeknecht. Euch brauche ich hier.«
Erst jetzt sah sie den Arm des Jungen. Entsetzt hielt sie den Atem an. Im Unterarm klaffte ein Loch so groß wie ihre Faust. Muskelfleisch hing in Fetzen unter dem armseligen Stoff, den Silas entfernte. Dazwischen leuchteten hell die Knochen. Sie fragte sich gerade, warum die Wunde kaum blutete, als sie das fest gebundene Lederband um den Oberarm entdeckte.
Silas sah auf. »Judith!« Seine Stimme war scharf, und ihr fiel sofort wieder ein, was sie gelernt hatte. Keine Panik, ruhig bleiben, handeln.
Sie atmete tief ein und wandte sich dann an den ersten Knecht, der seinen Kopf zur Tür hereinsteckte. »Hajo, du holst sofort zwei Eimer Wasser aus der Küche. Sehr heiß muss es sein, hörst du?« Der Mann nickte und verschwand.
Ein weiterer Kopf tauchte auf. Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du läufst zur Mägdekammer und lässt dir Verbände geben. Und saubere Tücher. Beeil dich! Und ihr anderen geht wieder an die Arbeit.«
Leise murmelnd zerstreuten sich die Leute im Stall und auf dem Hof.
Judith sah, dass der Bauer zitterte. Sacht legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Geh in die Küche und lass dir zu trinken geben. Du kannst hier nichts tun. Ich schicke nach dir, wenn wir fertig sind.«
Der Mann nickte hilflos und wankte hinaus.
»Ein Wolf?«, fragte sie leise. »Es ist noch lange nicht Winter.«
Silas blickte nicht auf. »Ein Einzelgänger, alt und mit schlechten Zähnen. Vielleicht tollwütig.« Behutsam zog er einen einzelnen Gewebefaden aus dem Muskelfleisch. »Der Junge hütete Schweine im Lohwald. Der Wolf muss sehr hungrig gewesen sein, zwei Schweine sind tot.«
Die Ränder der Wunde klafften auseinander, als wollten sie an den Wolfsrachen erinnern.
»Es fehlt ein Stück, sowohl Haut als auch Muskel.« Silas sprach gedämpft.
Der Junge begann zu zittern, als würde er auf Eis liegen.
»Ihr müsst ihn ruhig halten. Achtet darauf, dass er seinen Arm nicht sehen kann. Gebt ihm etwas Mohnsaft, dann schläft er vielleicht ein.«
Judith ging um den Tisch herum und strich dem Jungen das Haar aus dem Gesicht. »Wie heißt du?«
Er antwortete nicht, seine Zähne schlugen aufeinander, Schweiß trat auf seine Stirn. Silas reichte ihr den Saft, den sie ihm vorsichtig einflößte. Hinter sich hörte sie jemanden mit Eimern hantieren. Ein Stapel Tücher wurde ihr zugeschoben.
Sie griff nach dem obersten und wischte dem Jungen das Gesicht damit ab. »Bald geht es dir besser, hörst du? Dann kannst du dich wieder um die Schweine kümmern.« Sie fühlte, wie seine Muskeln langsam erschlafften und er sich entspannte. Sein panischer Blick wurde glasig, und die Augen fielen zu.
Silas begann die Wunde über einem Eimer zu spülen. Er blickte
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