Das Geheimnis der Äbtissin
wurde Judith vom Heulen der Jagdhunde geweckt. Der Jagdmeister war noch vor dem Morgengrauen mit dem Laufhund an der Leine in den nebelfeuchten Wald geritten, um die Spur des Wolfs aufzunehmen. Die zurückgelassene Meute jaulte ungeduldig im Zwinger. Sie sprang aus dem Bett und stieß sich an der Truhe, die seit dem Einzug der Prinzessin nur ein Fußbreit von ihrem Lager entfernt stand. Doch sie achtete nicht auf den dunklen Fleck, der sich an ihrem Schienbein ausbreitete, sondern kleidete sich hastig an. Sie durften an der Jagd teilnehmen! Margot zog ihrem Schützling gerade ein grünes Jagdkleid über den Kopf. Sie hatte dem Grafen versichert, dass Beatrix eine geübte Jägerin sei, und damit das heutige Abenteuer ermöglicht.
Isabella war ebenfalls schon auf den Beinen. Leise fluchend kramte sie in einer der Truhen an der Wand. »Hat jemand meine Stiefel gesehen?«
Unten im Saal nahmen Ritter und Jäger ein hastiges Frühstück ein. Die Eiligsten waren schon im Hinausgehen begriffen, da segnete Pater Martinus die Jagdgesellschaft mit einer flüchtigen Gebetsformel und wedelte ein Kreuz über ihre Köpfe hinweg. Die Pferdeknechte brachten die ersten gesattelten Pferde vor den Palas, während der Waffenschmied Lanzen und Bögen ausgab.
»Für mich eine leichte Waffe!«
Der große Mann schob seine Ärmel nach oben und ließ seine muskulösen Arme sehen. Verdutzt starrte er auf die junge Dame in grüner Jagdtracht, die ihn fordernd ansah. »Edle Frau, ich fürchte …«
»Beeil dich, der Wolf wartet nicht!« Beatrix stampfte mit dem Fuß, der in zierlichen Lederstiefeln mit Gamaschen steckte.
Ratlos kratzte sich der Waffenschmied am Kopf. Dann griff er hinter sich. »Das hier ist eine kleinere Lanze, die durchaus zur Jagd …«
»… auf Hasen geeignet wäre!« Beatrix schnaubte wütend. »Ich will einen Wolf erlegen, also such gefälligst weiter!«
Ludwig kam über den Hof und trat an ihre Seite. »Das war meine Kinderlanze. Damit habe ich das Zielen geübt«, sagte er kichernd. Zielsicher nahm er einen schlanken Wurfspeer mit eiserner Spitze von der Wand. »Viel Erfolg!«, prustete er und verschwand in Richtung Pferdestall.
Die Sonne kämpfte noch vergeblich gegen den Morgennebel, als die Jagdgesellschaft losritt. Die kurzen grünen Röcke und grauen Beinkleider ließen alle beinahe gleich aussehen. In derben Ledergürteln steckten lange Messer zum Ausweiden und Abbalgen der Jagdbeute. Die meisten trugen ihren Bogen über der Schulter, während Köcher, Speer und ein zusammengerollter Mantel am Sattelgurt befestigt waren. Allen voran ritt der Gehilfe des Jagdmeisters, der die Jagdhunde des Grafen führte, überwiegend schnelle Windhunde, die den Wolf aufspüren und stellen sollten. Zwei große Wolfshunde überragten die anderen und teilten nach allen Seiten wütende Bisse aus. Die Tiere kläfften und zerrten an den Leinen, so dass der Mann Mühe hatte, sein Pferd ruhig zu halten. Ein ums andere Mal ließ er seine lange Peitsche über der wilden Meute knallen, was jedoch nur kurzzeitig für Ruhe sorgte.
Der Jagdmeister hatte noch am Vorabend Instruktionen gegeben, wie die Jagd ablaufen sollte. Wenn der Wolf gestellt war, mussten ihn die Lanzenträger einkreisen. Sie hatten die schwierige Mission, den Räuber zu treffen und nicht die Hunde. Falls er ihnen entwischte, warteten in der zweiten Reihe die Bogenschützen.
»Welche Aufgabe habe ich?«, hatte Beatrix ihn gefragt.
Der Jagdmeister hatte sie nachdenklich gemustert. »Edle Dame, ich möchte Euch nicht unnötig gefährden. Wie wir alle wissen, scheut das Tier nicht davor, Menschen anzugreifen. Es ist gut möglich, dass es von der Tollwut befallen ist.«
Beatrix, die erst aufbrausen wollte, wurde bei seinen letzten Worten merklich ruhiger.
»Ich denke«, fuhr der Jagdmeister fort, »dass wir für die Damen einen Platz finden werden, von dem aus sie die Jagd gut beobachten können. Natürlich solltet Ihr trotzdem Eure Waffen bereithalten, falls Ihr Euch verteidigen müsst.«
Beatrix hatte dazu nur schweigend genickt, und Judith hatte sich gefragt, ob das Verdrossenheit oder Erleichterung bedeutete. Sie selbst war recht froh gewesen über die Entscheidung des Jagdmeisters.
Isabella hingegen machte keinen Hehl aus ihrem Ärger. Selbst jetzt noch, als sie die taufeuchte Trift hinaufritten, nörgelte sie halblaut: »Es ist empörend, dass er uns nicht mal die zweite Reihe zutraut. Er weiß doch, wie gut ich schieße. Das macht er nur wegen dieser
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