Das Geheimnis der Äbtissin
Ludwig, lass sie von dem Mauren lernen. Sie soll die Zeit nutzen. Bevor der Winter kommt, wird der Kaiser ihn zurückrufen.«
»Gerade jetzt soll sie sich aber um die Prinzessin kümmern«, wandte der Graf ein.
»Das kann Isabella tun.« Sie hob die Hand, als er protestieren wollte, und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Ich weiß, ich weiß, sie sind wie Hund und Katze, das sieht wohl jeder. Es wird für beide eine gute Schule sein, sich zu beherrschen.«
Er sah sie bekümmert an.
Sigena lachte. »Eine handfeste Auseinandersetzung unter Rittern wäre dir lieber, nicht wahr?« Als er nickte, fuhr sie ernster fort: »Du brauchst eine Heilerin, Ludwig. Ich helfe euch gern, aber ich kann nicht immer sofort zur Stelle sein. Denk an den Winter. Außerdem werde auch ich nicht jünger.«
Am nächsten Morgen erschien Graf Ludwig im Unterricht bei Pater Martinus. An seiner Seite war Beatrix. »Die Prinzessin wird an Euren Unterweisungen teilnehmen«, erklärte er. »Der Kaiser möchte, dass Ihr gemeinsam lernt und Euch gegenseitig helft. Die Kunst, den Willen und das Wesen anderer zu achten und zu verstehen, werdet Ihr später benötigen, wenn Ihr die Geschicke unseres Reiches oder der Grafschaft leiten werdet.« Bei den letzten Worten blickte er die Prinzessin und Isabella bedeutungsvoll an.
Pater Martinus begann mit Latein. Schon bald zeigte sich, was Kaiser Friedrich gemeint hatte, als er von der guten Ausbildung seiner jungen Frau sprach. Sie war den beiden Mädchen weit voraus, und der Pater sah sich gezwungen, ihr gesonderte Aufgaben zu geben. So las Beatrix fließend die Schriften des Tacitus über die Germanenfeldzüge, während Judith und Isabella einzelne Sätze daraus Wort für Wort übersetzen mussten.
Im Deutschunterricht waren ihre Fähigkeiten etwa gleich verteilt. Während Isabella weibliche Dingwörter deklinierte, versuchte Beatrix sie mit den männlichen zu übertrumpfen. Pater Martinus nickte zufrieden. Die Rivalität belebte den Unterricht deutlich. Er hoffte nur, dass Ludwig bald wieder anwesend sein würde, damit der Vorsprung der Mädchen nicht allzu groß wurde.
Die Französischstunde allerdings geriet zur Katastrophe, weil Beatrix den armen Pater ununterbrochen verbesserte. Als er in einem Text über die heilige Radegunde den Namen ihres Klosters falsch aussprach, sprang sie endlich auf. »Es ist genug. An diesem Unterricht werde ich nicht weiter teilnehmen. Ich lasse meine geliebte Muttersprache nicht misshandeln!« Sie lief hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
»Das ist schade«, urteilte Graf Ludwig, als Judith ihm nachmittags davon berichtete. »Ihr könntet aus ihren Kenntnissen viel Nutzen ziehen. Euer Französisch wäre dann so gut wie ihr Deutsch. Eine solche Gelegenheit bietet sich vielleicht nie wieder.«
»Aber sie ist hochnäsig, Vater. Du solltest sehen, wie sie Pater Martinus behandelt.«
»Nun ja, wahrscheinlich ist er wirklich kein guter Französischlehrer.«
»Allerdings hättest du sie im Rechnen erleben müssen«, sagte sie lachend. »Da war sie still und in sich gekehrt. Sie konnte nicht mit den Bruchteilen umgehen.«
»Ich hoffe, du hast ihr geholfen?«
»Nein. Das kann Pater Martinus besser. Ludwig könnte es auch. Er fehlt uns, ohne ihn brauchen wir viel mehr Zeit für die Rechenaufgaben.«
Der Graf nickte ernst. »Ich werde mit Silas reden. Vielleicht können wir Ludwig für ein paar Stunden in den Saal tragen. Dem Jungen würde die Abwechslung guttun.« Plötzlich grinste er. »Ich habe allerdings den Verdacht, dass ihm der Unterricht gar nicht fehlt.«
Sie lachte. »Er sagt immer, ein Ritter muss nicht lesen oder schreiben können.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Doch da irrt er.«
»Stimmt es, dass der Kaiser nicht schreiben kann?« Sie hauchte die Frage fast, so ungeheuerlich kam ihr diese Vermutung vor.
»Es ist wahr. Er ist weder des Lesens noch des Schreibens mächtig. Deshalb legt er auch so viel Wert auf die Ausbildung seiner Frau und seiner Tochter, glaube ich. Du und dein Bruder, ihr habt wirklich großes Glück, dass ihr daran teilhaben könnt.« Graf Ludwig strich ihr über den Kopf. »Ich hoffe, ihr wisst das zu schätzen.«
»Aber warum hat er es nie gelernt?«
»Friedrich war der Neffe des Königs und wurde zum Ritter ausgebildet. Er lernte reiten und mit Schwert und Lanze umzugehen. Niemand ahnte damals, dass sein Oheim ihn als Thronfolger auswählen würde. Und wie du siehst, er ist trotzdem ein guter Kaiser geworden.
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