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Das Geheimnis der Äbtissin

Das Geheimnis der Äbtissin

Titel: Das Geheimnis der Äbtissin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Marie Jakob
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Allerdings muss er sich immer auf das verlassen, was man ihm vorliest und was andere für ihn schreiben. Er kann es niemals prüfen.« Er lächelte stolz. »Und das hättet ihr ihm schon mal voraus.«
     
    Der Spätsommer verging für Judith wie im Flug. Die morgendlichen Unterrichtsstunden, an denen auch Ludwig wieder teilnahm, waren wesentlich arbeitsreicher als früher. Das lag einerseits an den gestiegenen Anforderungen, die sie der Anwesenheit der Prinzessin zu verdanken hatten, aber auch an dem Konkurrenzkampf zwischen Isabella und ihrer Rivalin. Sie spornten sich verbissen zu gegenseitigen Höchstleistungen an. Beatrix rezitierte ein langes Gedicht von Wilhelm von Aquitanien, daraufhin lernte Isabella von einem Tag auf den anderen ein Gedicht des deutschen Minnesängers Dietmar von Aist auswendig und dichtete gleich noch zwei eigene Strophen dazu.
    Pater Martinus fühlte sich den Ansprüchen bald nicht mehr gewachsen. Bischof Konrad übernahm den Französischunterricht und wenig später auch Latein. Nun sahen sich Isabella und Judith einem anderen Problem gegenüber. Im Gegensatz zum Pater war Konrad alles andere als integer. Während sie ihm kaum etwas recht machen konnten, lobte er Beatrix nach jeder Antwort, drückte ihr die Hände oder strich ihr zärtlich übers Haar.
    Die Nachmittage verbrachte Judith mit Silas. Er lehrte sie, die verschiedensten Kräuter und Pflanzen an Geruch, Geschmack, Form und Standort zu unterscheiden. Sie lernte, wann Blüten und Früchte zu ernten waren, wie Wurzeln am schonendsten ausgegraben wurden, wie Blätter zu transportieren und zu trocknen waren. Sie legte Pflanzenteile in Öl ein oder in Essig, um sie haltbar zu machen. Sie versuchte sich die Wirkung von Minze einzuprägen und die innerliche und äußerliche Dosierung von Bärlapp. Sie lernte Gift und Gegengift zu trennen, sie begriff, dass ein Heiler Körperreaktionen verhindern oder hervorrufen konnte. Manchmal glaubte sie, der Kopf würde ihr platzen.
    Doch Silas war unerbittlich. »Ein Fehler von Euch kann einem Menschen das Leben kosten oder ihm große Pein bereiten«, ermahnte er sie wohl zum hundertsten Mal und zog ein Linnensäckchen aus seiner Holzkiste. Er öffnete es und ließ sie hineinsehen. »Was ist das?«
    Kleine weiche Kugeln lagen darin wie Wachteleier im Nest. Das war einfach. »Hopfenzapfen.«
    »Wann wendet Ihr sie an?«
    »Bei Magenbeschwerden, Durchfall und Blähungen, auch bei Frauen, die Schmerzen während ihrer unreinen Tage haben …« Sie stockte.
    »Weiter?«
    Da war noch etwas, und sie wusste es. Wollte er es wirklich hören? »Bei Männern hilft es gegen …« Sie blickte auf ihre Füße.
    Silas verkniff sich ein Lächeln. »Judith, seht mich an! Nichts darf Euch peinlich sein. Wenn Ihr einen Mann als Patienten habt, müsst Ihr ihm genauso helfen wie einer Frau, versteht Ihr?«
    Sie nickte.
    »Gut. Weiter. Wie erntet Ihr den Hopfen?«
    »Er reift genau jetzt im Spätsommer. Ich sammle die Zapfen frühzeitig, bevor sie sich öffnen, damit die Schuppen nicht abfallen. Dann trockne ich sie auf einem Gestell, das herausfallende Mehl fange ich auf, indem ich feste Tücher darunter ausbreite.«
    Silas brummte zufrieden. »Was fangt Ihr mit dem Mehl an?«
    »Das gebe ich dem Kranken als Prise, je nachdem, wie groß und gewichtig der Mensch ist. Kinder bekommen eine kleine Prise …«
    »Wie klein?«, unterbrach er sie.
    »So viel, wie in eine Bucheckerschale passt.«
    »Wie viel gebt Ihr Eurem Vater?«
    »So viel, wie in eine Haselnussschale passt.«
    »Der französischen Kinderfrau?«
    »Eine Walnussschale voll!« Judith prustete los. Die dicke Margoh, wie sie vom Gesinde genannt wurde, war ihr Musterbeispiel für hochdosierte Arzneien geworden. »Oder ein Hühnerei?«
    Silas lachte jetzt auch. »Ich glaube, die Walnuss genügt.«
    »Welches ist der dickste Mensch, den du kennst?«, versuchte sie von der peinlichen Befragung abzulenken.
    Silas legte den Kopf in den Nacken und dachte nach. »In Edessa gab es einen Eunuchen, der war so dick, dass er nicht mehr laufen konnte. Wenn er seine Notdurft verrichten wollte, mussten ihn zwei Kamele auf einer Trage zu einer Grube schleppen.«
    »Oh! Wie hast du bei ihm dosiert?«
    »Ich habe ihn nie behandelt, aber ich denke, ein Katzenschädel voll Hopfenmehl wäre angebracht gewesen.«
    »Was ist ein Eunuch?«
    »Ein Mann, der kastriert wurde.« Als er ihr ungläubiges Gesicht sah, ergänzte er: »Eunuchen bewachen die Frauengemächer der

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