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Das Geheimnis der Äbtissin

Das Geheimnis der Äbtissin

Titel: Das Geheimnis der Äbtissin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Marie Jakob
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hat die Burg verlassen – niemand weiß, für welche Zeit, vielleicht gar für immer. Er hat mir viel Arbeit dagelassen. Die trocknenden Kräuter müssen täglich auf Fäulnis durchgesehen werden, sie müssen gebündelt, sortiert und aufgehangen werden. Beim Zimmermann habe ich ein Gestell bestellt, wie Sigena es unter ihrer Decke hat. Die Haken dazu fertigt mir der Schmied. Dies alles sollte mich ablenken, doch das Gegenteil wird der Fall sein. Der Duft der Pflanzen lässt mich glauben, er stünde neben mir, ihre weichen Blätter zwischen meinen Fingern sind wie die kleinen Berührungen seiner Hände, die braunen Wurzeln haben die Farbe seiner Haut. Die toten Blüten sehen traurig aus, als wollten sie meinen Kummer teilen. Was würde er sagen, wenn er von dem Bauernjungen wüsste? Würde er verstehen, dass ich die Dosis des Mohnsaftes viel zu …«
    »Was tust du da?« Sie zuckte zusammen und hätte fast den kleinen Krug Tinte umgeworfen, als Isabella plötzlich in der Tür stand. »Warum bist du nicht zum Abendessen gewesen?«
    Judith geriet in Versuchung, das begonnene Schriftstück zusammenzurollen und verschwinden zu lassen, doch befürchtete sie, dass die Tinte verschmieren könnte. »Ich schreibe.«
    »Was schreibst du?« Isabella trat neugierig an den Tisch.
    »Silas nannte es mein zweites …«
    Isabella ließ sie nicht ausreden. »Aber das ist Papyrus!«
    »Ja? Es ist viel besser als Pergament, es bedarf nur ganz wenig Tinte, und leichter ist es auch.«
    »Ich habe nur einmal bisher solche weißen Blätter gesehen. In Nürnberg auf dem Markt. Ein Bündel wie dieses hier war so teuer wie ein halber Ballen chinesische Seide.«
    »Er hat es mir zum Abschied geschenkt.«
    Isabella setzte sich neben ihr auf die Bank. »Dann stimmt es also.«
    »Was?«
    »Na, was schon! Er liebt dich!« Als Judith sie nur fragend anblickte, fuhr sie fort: »Es war da etwas zwischen euch wie ein unsichtbares Band.«
    Judith ließ den Federkiel sinken. Zum ersten Mal sprach jemand aus, was sie im Innersten fühlte.
    »Du musst sehr unglücklich sein«, sagte Isabella.
    »Ich bin glücklich und, ja, gleichzeitig auch unglücklich. Ich fürchte mich davor, dass sein Gesicht aus meinem Kopf verschwindet. Wie das meiner Mutter.« Ihre Augen schwammen in Tränen.
    Isabella sah zunächst ratlos aus. Doch dann zeigte sie auf das Papier. »Schreib! Wenn er das so wollte, dann schreib. So wirst du ihm nahe sein.«

 
     
    Gruonet der walt allenthalben.
    wa ist min geselle also lange?
    der ist geriten hinnen.
    owi! wer sol mich minnen?
     
    Es grünt der Wald allenthalben.
    Wo ist mein Gefährte so lange?
    Der ist weggeritten.
    Ach, wer wird mich liebhaben?
     
    Carmina Burana 149 II.

[home]
    Burg Lare, im Mai anno 1158
    »Am ersten Tage des Maien 1158. Der Kaiser ist auf dem Weg hierher. Er sammelt seine Getreuen für einen Feldzug gegen Mailand. Auch Vater wird mit ihm ziehen. Ich bin furchtbar ungeduldig, doch die Zeit will nicht vergehen. Endlich werde ich Silas wiedersehen. Beim Gedanken daran schlägt mein Herz so wild, dass ich selbst mein schwierigster Patient bin und mir Baldrian verordnen müsste. Nur hat die rote Katze der Köchin mir erneut die frischen Triebe des Krautes verdorben. Sollte sie nicht Mäuse fangen, statt sich im Kräuterbeet zu wälzen? Doch bin ich so glücklich, dass ich ihr nicht böse sein kann.«
    »Wenn du mit deiner Schreiberei fertig bist, könntest du mit hinauskommen und einen Blick über die Mauer werfen.« Isabellas Lockenkopf hatte sich durch eine Spaltbreit geöffnete Tür geschoben. Ihre Augen blitzten schelmisch.
    »Was ist? Etwa …?« Judith erhob sich rasch.
    »Sieh selbst!« Die Tür schlug zu.
    Hastig schloss sie das Tintenfässchen und schob das zur Hälfte beschriebene Blatt in eine Lade unter dem Tisch. Mit einem Griff raffte sie ihr Gewand und stürmte hinaus. Gerade noch sah sie Isabellas rotes Kleid hinter der hölzernen Brüstung des nördlichen Wehrgangs verschwinden. Sie musste einigen Knechten ausweichen, die große Ballen Schafwolle in die Spinnstube schleppten. Dabei riss sie einer erschrockenen Magd fast die Schüssel mit Brotteig aus den Händen und scheuchte eine Handvoll Hühner auf, die im Schatten der Mauer nach Würmern scharrten. Das Schimpfen und Gackern ignorierend, hangelte sie sich geschwind die Holzleiter hinauf. Was, wenn Isabella sie nur zum Narren hielt? Sie wurde leicht ungehalten, wenn sie sie in ihr »zweites Gedächtnis« vertieft sah.
    Oben auf dem

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