Das Geheimnis der Äbtissin
sich das dickflüssige Elixier am Rand bereits über den Löffel wölbte, setzte sie ab. Geschwind hielt sie ihn an die halbgeöffneten Lippen.
»Halt ihn gut fest. Kein Tropfen darf verlorengehen«, warnte sie den Bauern. Als der Junge sich aufbäumte, packte sie ein kleines Büschel Stroh und drückte es ihm vor den Mund. Der Kampf dauerte nicht lange. Bald erschlaffte der magere Körper, und die verkrampften Muskeln entspannten sich.
»Er schläft jetzt.«
Der Bauer setzte sich zu ihm ins Stroh.
Judith fasste nach dem Bein des Jungen. »Ich will mir diese Wunde noch einmal ansehen.« Der Oberschenkel war gut verheilt. Die Fäden müssten dringend gezogen werden. Doch wozu? Der Stolz auf ihre erste gelungene Wundnaht wurde von Niedergeschlagenheit besiegt. Sie würde den Jungen nicht retten können.
»Er ist ein guter Junge, wisst Ihr.« Der Bauer strich seinem sterbenden Sohn unablässig die feuchten Haare aus dem Gesicht. »Er hat ein Händchen für Schweine. Er treibt sie weit in den Hutewald hinein, weiß genau, wo die besten Eicheln und Bucheckern liegen. Nicht ein einziges Tier ist ihm verlorengegangen bis zu diesem unglücklichen Tag.«
Sie nickte und verstaute die wertvolle Flasche mit dem Mohnsaft. »Wenn du nach Hause kommst, musst du alle seine Sachen verbrennen, hörst du? Das ist sehr wichtig. Sonst werdet ihr alle krank, du, deine Familie und auch deine Schweine.« Sie dachte erneut daran, dass in Silas’ Heimat selbst die Leichen verbrannt wurden, doch das brachte sie nicht über die Lippen. Sie hoffte, dass mit einer Bestattung in der Erde auch die Krankheit verschwinden würde. »Ich schicke jetzt Pater Martinus her. Er wird ihm die Letzte Ölung geben und mit dir beten.«
An der Pferdetränke wusch sie sich die Hände.
Graf Ludwig, der mit dem Verwalter in der Stalltür stand, streifte seine Tochter mit einem nachdenklichen Blick. Ohne dass er es gemerkt hatte, war sie zu einer verantwortungsbewussten jungen Frau geworden. Langsam wurde es Zeit, über ihre Zukunft nachzudenken.
Als die Dämmerung kam, starb der Junge. Er war nicht noch einmal erwacht. Der Bauer lud den schmächtigen Leichnam auf seinen Handkarren und wankte mit seiner Fracht zum Tor hinaus. Der Verwalter ließ das Stroh hinter dem Stall wegfahren und verbrennen.
Mit der Dunkelheit senkte sich Ruhe über den Hof, und allein hinter den Mauern der Kemenate traf Judith mit Wucht die Erkenntnis, dass Silas tatsächlich fort war. Es würde keine Gespräche mehr über Heilmethoden geben, keine Diskussionen über die wirksamsten Kräuter. Nicht dieses merkwürdige Ziehen in der Brust, wenn sein eindringlicher Blick nach einer Frage auf ihrem Gesicht ruhte, wenn seine Hände beim Bündeln von getrockneter Kamille die ihren streiften. Sie erinnerte sich an sein Geschenk, das sie in der Aufregung um den Bauernjungen in ihrer Kleidertasche vergessen hatte. Vorsichtig zog sie es heraus und strich sacht über das fremdartige Material von der Farbe einer Eierschale, an den Seiten bereits leicht eingerissen. Sie löste das dünne Band aus Leder, und die Rolle sprang auf. Es entblätterten sich helle Seiten, feiner als das beste Ziegenpergament, das sie je gesehen hatte, und beinahe durchsichtig. Ein würziger Duft stieg ihr in die Nase, wie sie ihn aus Silas’ Arzneitasche kannte. Etwas ratlos betrachtete sie dieses seltsame Geschenk. Das sollte ihr Gedächtnis sein?
Aus dem Innern der Rolle fiel etwas zu Boden. Sie bückte sich und fand einen Gänsekiel.
»Also gut, Silas«, flüsterte sie.
Sie griff sich eine dicke Kerze aus dem Wandregal, entzündete sie an der Fackel, die eine Magd gerade erst in die Wandhalterung gesteckt hatte, und zog den Tintenkrug heran, der auf dem Tisch bereitstand. Ehrfürchtig strich sie die oberste der Seiten glatt. Sie leuchtete im Kerzenlicht wie der volle Mond in einer klaren Nacht. Dann schnitt sie den Kiel schräg an und tauchte ihn in die dunkle Flüssigkeit.
Staunend sah sie, wie die strahlend weiße Fläche die schwarze Nässe aufsaugte, die schneller trocknete, als sie das vom Pergament gewohnt war. Trotz aller Vorsicht war noch zu viel Tinte am Kiel gewesen, so dass ihre Buchstaben breit und ungeschickt aussahen. Sie schob die Zungenspitze zwischen die Zähne, als sie die Feder erneut ins Glas tauchte. Diesmal berührte sie nur knapp die Oberfläche der Flüssigkeit.
»Am ersten Tage des Oktober, im Jahre des Herrn 1156 zur Burg Lare. Dieser Tag war kein guter im Angesichte Gottes. Silas
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