Das Geheimnis der Äbtissin
vergeblich an dem Kloß, der in ihrem Hals saß und ihr das Atmen schwer werden ließ. »Wirst du wiederkommen, mit dem Kaiser?«
»Ich bin sein Leibarzt. Warum nicht?« Das Lächeln in seinen Augen zog sie hinab in die Tiefe und verursachte wieder dieses merkwürdige Ziehen in ihrer Brust. Hastig wandte sie sich ab. Der Wagen mit Beatrix rollte vom Hof, kein Blick fand den Weg zurück. Ihre Krönung zur Königin sollte Anfang Oktober in Trier stattfinden.
Silas saß auf und Nawar wieherte unternehmungslustig. Dann verschluckte ihn das Tor. Judith rannte zum Bergfried und hastete die Treppe hinauf, dieselben ausgetretenen Stufen, die ihrem Bruder vor etlichen Wochen zum Verhängnis geworden waren. Oben angekommen, legte sie sich auf die Mauerkrone und sah dem Zug nach, der sich wie ein kurzer dicker Wurm auf den Wald zuschlängelte.
»Komm zurück, Silas, komm zurück!«, flüsterte sie beschwörend den dicken Mauersteinen zu. Im selben Moment stieg Nawar, tänzelte auf den Hinterbeinen und drehte sich. Sein Reiter blickte zum Turm hinauf und hob die Hand. Es wirkte wie ein Versprechen. »Danke, Nawar!«, rief sie in den aufkommenden Wind.
»Liebst du etwa das Pferd? Ich hatte bisher auf den Heiler gesetzt.« Hinter ihr stand Isabella und grinste spöttisch.
»Du hast mich erschreckt.«
»Hast du mich nicht kommen hören? Verstopft Liebe die Ohren?«
»Jetzt hör auf!« Judith lachte verlegen.
»Ich beneide dich.«
»Worum denn? Er ist weg, wann er zurückkommt, steht in den Sternen. Außerdem wird Vater mich niemals einem unfreien Heiler aus dem Morgenland zur Frau geben.«
Isabella nickte nachdenklich. »Du bist traurig, ich dagegen froh.« Sie kicherte plötzlich und riss die Arme in die Luft, wobei sie sich um die eigene Achse drehte. »Endlich ist diese Wichtigtuerin abgereist. Möge sie direkt in die Hölle fahren!«
»Schscht! Willst du das Schicksal herausfordern?« Ängstlich sah Judith sich um. Doch der Wachsoldat, der auf dem Bergfried patrouillierte, interessierte sich nur für den Tross, der allmählich im Wald verschwand.
»Wir werden wieder tun und lassen können, was wir wollen.«
»Und der Unterricht bei Pater Martinus wird so langweilig sein wie früher«, ergänzte Judith.
»Niemand wird die Fehler bemerken, die wir im Französischen machen!«, sagte Isabella kichernd.
»Die Gespräche mit Bischof Konrad über Politik werden mir fehlen«, wandte Judith nachdenklich ein.
»Du meinst die Annäherungsversuche an sein Prinzesschen?«
»Nein …«
»Wie er ihre Hand tätschelte, die rein zufällig immer in seiner Nähe lag?«
»Isabella!«
»Oder die innigen Blicke, die sich aneinander festsaugten wie zwei Nacktschnecken?«
Jetzt musste sie doch lachen. »Nacktschnecken?«
»Etwa nicht? Wenn die beiden nichts miteinander haben, dann will ich den Ratten im Verlies eine Nacht Gesellschaft leisten.«
Judith zog sie zur Treppe. Das Desinteresse des Wachsoldaten kam ihr gar nicht mehr so glaubwürdig vor. »Überleg dir, was du sagst. Der Kaiser meinte, Konrad sei ihr wie ein Bruder.«
»Na hör mal, schaut man so seinen Bruder an? Du hast es auch gesehen. Sie himmelt ihn an, und er wäre kein Mann, würde er das nicht ausnutzen.« Isabella ging vor ihr die Stufen hinab.
»Das kann ihn das Leben kosten.«
»Oh, mein Vater hat einen Narren an ihm gefressen. Er würde es nicht glauben, wenn sie es direkt vor seinen Augen trieben.«
Sie traten auf den Hof hinaus. Dort stand der Bauer, dessen Sohn von dem Wolf angefallen worden war, und drehte nervös seine Kappe in der Hand. Als er Judith erblickte, kam er auf sie zu. »Herrin! Mein Junge – es geht ihm schlechter.«
»Hast du ihn mitgebracht?«
Der Mann nickte und deutete in Richtung Stall.
»Ich komme!«
Isabella hielt sie am Arm fest. »Denk daran, was der Jagdmeister uns eingeschärft hat. Der Wolf war tollwütig. Wenn der Junge diese Krankheit auch hat, gefährdet er uns alle.«
»Ich weiß. Aber ich muss ihn mir ansehen. Am besten, du holst meinen Vater.«
Nachdenklich lief sie dem Bauern nach. Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, was Silas ihr über diese Wutkrankheit beigebracht hatte. Da sie nicht zu heilen war, galt alle Sorge den Angehörigen, die sich auf keinen Fall anstecken durften. In seiner Heimat wurden erkrankte Menschen getötet und ihre Körper verbrannt. Medizinisch war das vielleicht sinnvoll, doch wenn sie an die entsetzten Augen des Jungen dachte, dann tat ihr das Herz weh.
Der Bauer führte sie um
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