Das Geheimnis der Äbtissin
ihre Pfeile verloren, und ihre Lanze … Ich weiß nicht mehr genau.« Sie rieb sich die Stirn. »Ich glaube, ich brauche jetzt frische Luft. Bitte entschuldigt mich.« Sie erhob sich. Ihre Beine fühlten sich merkwürdig schwer an.
»Natürlich begleite ich Euch. Ist Euch nicht wohl?« Er sprang auf und nahm ihre Hand.
Noch bevor sie ablehnen konnte, spürte sie, dass ihr schwindlig wurde und sie seinen stützenden Arm gut gebrauchen konnte. Gemeinsam verließen sie den Saal und gingen über den Hof. In der fortschreitenden Dämmerung fegten einige Knechte die Pferdeäpfel vom Pflaster.
Er sah sich um. »Gibt es irgendwo ein ruhiges Plätzchen?«
Sie dachte an den Kräutergarten, wo jetzt sicher nur die rote Katze zu finden war, doch durch ihren vernebelten Verstand drang eine innere Stimme, die sie warnte.
»Ich glaube nicht. Heute sind überall fremde Leute und Soldaten.« Sie kicherte und ärgerte sich im selben Moment darüber. Was war nur los mit ihr? Hier draußen an der Luft schien es noch schlimmer zu werden.
»Dann werden wir nach den Pferden sehen«, hörte sie ihn sagen und fand sich kurz darauf im Pferdestall wieder.
»Welches ist Euer Hengst?«, fragte sie, froh, ein unverfängliches Gesprächsthema gefunden zu haben.
Er zog sie den Gang entlang, vorbei an halbhohen Holzverschlägen, über die sich neugierige Pferdeköpfe schoben. Sie hielt Ausschau nach Nawar, doch seine schwarze Mähne suchte sie vergebens. Vor einer Bucht in der Mitte des Stalls blieben sie stehen. Ein Rappe mit glänzender Mähne schnaubte leise, als Heinrich seine Hand ausstreckte und ihm über die Nüstern strich.
»Ein schönes Tier«, lobte sie. »Wie heißt er?«
»Lodi. Er ist treu und kräftig, aus guter andalusischer Zucht.«
Sie betrachtete den vornehmen Kopf des Tiers und nickte. Lodi schien zu begreifen, dass von ihm nichts weiter erwartet wurde, und wandte sich wieder seiner Futterraufe zu. Aus den anderen Buchten drangen das Rascheln frischen Strohs und das Plätschern von Urin, der aus großer Höhe fiel.
Allmählich klarte ihr Verstand wieder auf. »Wir sollten zurückkehren. Es geht mir schon besser.«
Heinrich nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. »Seid Ihr sicher?« Über ihren Handrücken hinweg schaute er sie an. Seine Augen forderten etwas, was sein schmaler Mund nicht aussprach.
»Aber ja.«
Er hob die linke Hand und fuhr mit seinem Zeigefinger vom Kinn hinab ihren Hals entlang. »Eine hübsche Kette tragt Ihr da«, murmelte er.
Ihr Herz schlug in ihrer Kehle, direkt unter seinen Fingerspitzen. »Ein Geschenk des Kaisers.«
»Ja, er hat Geschmack, mein lieber Vetter.« Sie fühlte die Stoppeln seines Barts auf ihrer Hand.
»Ihr seid sehr schön, Judith. Wisst Ihr das?«
Ihre Wangen wurden heiß. Während ihre Gedanken sich überschlugen, um einen Ausweg zu finden, bei dem sie beide das Gesicht wahren konnten, zwang sie sich, seinem Blick standzuhalten. »Wie geht es eigentlich Eurer Frau?«
Der Druck seiner Hand verstärkte sich, seine Lippen wurden schmal. »Seid nicht albern, Judith.«
Sie nahm allen Mut zusammen und sagte laut: »Bitte, bringt mich in den Saal zurück, Herzog.«
Doch ihr Widerstand schien ihn zu amüsieren. Er zog sie dicht an sich heran und drängte sie gegen die Tür der Pferdebucht. Deutlich spürte sie sein hartes Geschlecht an ihrer Hüfte. Sein Atem roch nach Wein und wurde schwer. »Warum seid Ihr mitgegangen, wenn Ihr nicht wollt, was ich will?«, stieß er hervor, während er an der Verschnürung ihres Kleides zerrte.
»Ich habe Euch vertraut!«, keuchte Judith voller Panik und versuchte sich aus seiner Umarmung zu winden. Seine Hände schienen plötzlich überall zu sein.
Irgendwo im hinteren Teil des Stalls stieg ein Pferd, Hufe schlugen gegen Holz. Dem lauten Krachen folgte gellendes Wiehern.
»Hört auf, Ihr macht die Pferde scheu!«
»Was interessieren mich jetzt …«
Seine letzten Worte gingen in einem gewaltigen Getöse unter. Hufe trafen Bretter, splitterndes Holz flog in den Gang. Aus den Buchten klang das vielfache Wiehern der aufgeregten Rosse wie das Schmettern der Trompeten von Jericho und brach sich an den Stallwänden. Judith sah einen schwarzen Schatten mit wehender Mähne, rollenden Augen und entblößtem Gebiss auf sich zukommen. Nawar! Das sonst so stolze Pferd gebärdete sich wie der Teufel selbst, keilte aus, schlug mit den Hinterhufen an die Holzverschläge und machte damit die Hengste toll. Sie hörte, wie der Herzog
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